laut.de-Kritik

In der Hölle waren wir schon.

Review von

Eine kleine Überraschung: Kurz vor Ende des Jahres liegt nun doch ein "Paradies"-Album der Verweigerungsgruppe Gewalt vor. Vorbei die Zeit der schön dem Untergrund-Ethos verpflichteten, schnell ausverkauften Vinyl-Singles. Die Band war einfach zu gut, um dem Album-Sektor als gut gehütetes Geheimnis fern zu bleiben. Das Echo blieb trotz großartiger Videos, unter anderem mit Boxer Rene Weller, verhalten. Indie aus Deutschland soll Diskurs bleiben, aber Rhythmus-Monster wie "Hell In Hell" war seinerzeit Instinkt-Rock und sollte den Hintern hiesiger Kartoffeln bewegen. Danach folgte, was in unserer Leistungsgesellschaft als "Scheitern" bezeichnet wird: Wagners Label Kitty-Yo ging pleite, später folgte noch eine Scheidung und irgendwann der Burnout.

Gewalt wurde aus Schmerz geboren, und das hört man den Songs auch an. Wütende Songs über Verlust, Hass und den Zusammenbruch. Wo sie beim Rezipienten landen, ist dann auch egal, Hauptsache sie lösen Emotionen aus. Live-Auftritte der Noise-Band sind ebenfalls schmerzhaft, inmitten eines Songs geht Wagner von der Bühne und schreit: "Was denn? / Was ist denn? / Was willst du denn? Von mir?" Es gibt dann die Möglichkeit, ängstlich zu gehen oder mit ihm den Schmerz aus "Szenen einer Ehe" zu teilen. Das ist Punk, weil es die eigene Sicherheit infrage stellt. Kein Schlager-Eskapismus, manische Fröhlichkeit oder großväterlicher Liebens-Ratgeber. Es ist ein lautes "Ich weiß es doch auch nicht!", zu dem scheppernde Drum-Sounds laufen und Noise-Grooves von Bassistin Jasmin Rilke und Helen Henfling den Schmerz aus dem Hörer und dem Sänger heraus extrahieren. "Du bist den ganzen Weg gerannt" hat Thees Uhlmann mal gesungen. Nein, wir rennen nicht mehr, wir bleiben nun stehen, drehen uns um und pissen dem verfickten Dämon ins Maul.

"Paradies" ist sehr laut, aber die Lautstärke ist nicht immer entscheidend. "3:35" protokolliert über fast zärtlichen Krautrock eine schweißgebadete Panik vor dem Alleinsein, selbst wenn der Partner neben einem liegt. Es schwingt immer ein Unwohlsein in den Texten und der Musik mit. "6:35, der Nacht getrotzt ... Meine Hand auf deinem Rücken. Ich liebe dich". Auch aus dem Text kann man alles ziehen. Der Mensch neben einem ist schon entfernt und erwidert die Liebe womöglich nicht oder man möchte ihn vor der eigenen Angst bewahren. Klar ist nur, dass dieser Song einfach keinen kalt lässt. Dann heul doch (bitte) und lass endlich los. Gut möglich auch, dass "3:35" das Bedürfnis weckt, einfach mal wieder "Ich liebe dich" zu sagen und es auch so zu meinen.

Was dieses gewaltige Album zusammenhält und irgendwann auch den Skeptiker mitreißt: Leidenschaft. Das ist keine Fiktion, das ist das verdammte Leben. Kein Geschäftsplan. Auf seinen Fuck Up-Nights in Berlin lässt Wagner Leute zu Wort kommen, die ihr sogenanntes Scheitern im Beruf und bei Plänen teilen. Sie teilen vor fremden Menschen ihre Erfahrung und zeigen, dass sie noch existieren. Kein gefakter Lebenslauf oder Lächeln, obwohl man innerlich zerbricht. Hier versammeln sich bestimmt auch ein paar fancy Elends-Voyeure, aber grundsätzlich überwiegt das Gefühl, dass man nicht alleine ist. Lass den Ironie-Mist, sag doch einfach, wie du es wirklich meinst und entwerte nicht die Kraft der Message damit.

Neben unserem böhmermannschen Selbstdarstellungs-Ironie-Jahrzehnt gibt es natürlich immer noch diesen einen Erzfeind. Der Song "Deutsch" bestätigt die Diagnose: "Bei Geburt ein Arschloch". Gründe gibt es dafür genug. Das Wegschauen bei ertrinkenden Flüchtlingen, der ewige Neid und trotzdem die großkotzige Übermenschlichkeit, wenn wir anderen Ländern etwas diktieren wollen. "Du kannst nicht anders / Im eigenen Keller / Bist besser als die Fremden / Die Schwellenländer, die Bittsteller." Die Faschisten sitzen übrigens immer noch im Bundestag und scheinen angekommen zu sein. Kein Wunder, dass man da in bester Sleaford Mods-Manier über der Flagge erbricht. Die britischen Punker gehören übrigens zu den vielen ausländischen Bands, die Gewalt schätzen. Auch Jack White fand Gefallen an dem Trio und engagierte sie 2018 als Vorgruppe für sein Berlin-Konzert.

Glauben Gewalt noch an Gott? Das "Paradies" gewährt jedenfalls nach religiöser Einordnung allen, die vorher still Schmerz und Prüfungen aushielten, einen Ort, an dem Schmerzen überwunden scheinen. Hier findet sich ein zehnminütiger Dance-Track, inmitten all der Ruinen. Das Schlusswort gebührt dem selbsternannten Papst des Scheiterns: "Die Luft ist geschwängert von Liebe, die wir kaum können, von Sex, Traurigkeit und Euphorie. Wahnsinn wird zu unserem Paradies. Wir haben keine Erwartung. Es sei einfach nur noch einmal schillernd und wahr, für einen einzigen, winzigen Moment. Wie schön, gleich geht die Sonne auf, oder nie." In der Hölle, da waren wir schon.

Trackliste

Part 1

  1. 1. Gier
  2. 2. Es funktioniert
  3. 3. Unterwerfung
  4. 4. Stirb es gleich
  5. 5. Jahrhundertfick
  6. 6. Paradies
  7. 7. Manchmal wage ich mich unter Leute
  8. 8. Die Wand
  9. 9. Stumpfer werden
  10. 10. 3:35 Uhr

Part 2

  1. 1. Deutsch
  2. 2. Nichts in mir ist einer Liebe wert
  3. 3. Pawlow
  4. 4. Kein Mensch
  5. 5. Guter Junge, böser Junge
  6. 6. Wir sind sicher
  7. 7. So geht die Geschichte
  8. 8. Tier
  9. 9. Er So soll es sein
  10. 10. Pandora
  11. 11. Szene einer Ehe

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