laut.de-Kritik

Ein Mahlstrom von tieftrauriger Schönheit.

Review von

"J'suis pas un artiste." Gleich die allererste Line: eine faustdicke Lüge. "Ich bin kein Künstler", rappt Louis Lemage da. "Ich mag die Bezeichnung nicht." Ja, Pech! Dieses Album ist in jeder Hinsicht, musikalisch, lyrisch, in seiner visuellen Umsetzung, so dermaßen Kunst. Wenn die Typen, die DAS zu verantworten haben, keine Künstler sind, dann kann der Begriff "Kunst" wirklich weg, soll verpuffen. Dann brauchen wir ihn nicht mehr.

Seit sich Glauque vor etlichen Monaten mit "Pas Le Choix" auf meinen Radar katapultiert haben, komm' ich aus dem Staunen darüber gar nicht mehr heraus, was da im wallonischen Namur so gedeiht. Klar, Hybride aus Hip Hop und elektronischer Musik haben zuvor auch schon andere fabriziert. Etwas von vergleichbarer Dichte und Intensität wie "Les Gens Passent, Le Temps Reste" muss man allerdings sehr, sehr, sehr lange suchen.

Doppel- und Mehrdeutigkeiten sind bei Glauque seit jeher Thema, auf ihrer selbstbetitelten Debüt-EP von 2020 erhoben die Belgier sie sogar zum Covermotiv. Auch auf diesem Album, in das vier Jahre Arbeit flossen, entzieht sich alles einer eindeutigen Zuordnung. Von Widersprüchen, Ungereimtheiten, Inkonsequenz, innerer Zerrissenheit erzählen die Lyrics, und auch von der Kluft zwischen Selbst- und (noch immer) herrschendem Männerbild, Anspruch und Realität.

In "Plusieurs Moi" etwa stellt Lemage seinen Geltungsdrang der ebenfalls ständig präsenten Angst vor dem Scheitern gegenüber. In "Ego" spielen grundverschiedene Stimmungen Pingpong im Kopf. "Plan Large" schlägt sich mit allem herum, oder mit nichts: "Se battre contre rien, se battre por tout."

Im Wesentlichen dreht sich "Les Gens Passent ..." aber um Verlust und Trauer und den Strudel der Gefühle, der beim Kreisen um emotionale schwarze Löcher entsteht. "J'fréquente les abysses", heißt es in "Plusieurs Moi", und man glaubt sofort, dass der Verfasser dieser Zeiten zu den Stammgästen in den Abgründen gehört. Zumindest leuchtet er sie höchst ortskundig aus.

Die Beats schöpfen das Spektrum von Ambient bis Industrial voll aus, reichen von Minimalismus bis zu erdrückend kompakten Soundwänden. Mal genügen ein paar wie nachlässig hingetropfte einzelne Klaviernoten im Loop, um hypnotische Wirkung zu entfalten. Dann wieder erschlägt einen die Detailfülle schier. Der Übergang zwischen diesen Extremen vollzieht sich zuweilen innerhalb eines Tracks, und das derart schleichend, dass man auch nach dem x-ten Hören noch nicht zu packen bekommt, wo genau eigentlich die Veränderung stattfindet.

Die elektronisch pumpenden Bässe unterstreichen den repetitiven Charakter der Instrumentals, und auch sie ziehen alle Register, von steril-maschinell bis organisch pulsierend wie ein Herzschlag. Stolperer und Aussetzer inklusive, zu beobachten in der intimen Beziehungs-Momentaufnahme "Bleu.e".

Als habe er sie auf Schienen gesetzt, durchschneiden die Worte des Mannes am Mic die sich ständig wandelnden Soundlandschaften. Der Kontrast zwischen ihren assoziativ mäandernden Bedeutungen und dem zügigen, unaufhaltsam geradeaus, vorwärts pflügenden Flow könnte größer kaum ausfallen. Dabei wirkt Lemage alles andere als emotionslos. Immer wieder scheint er nur knapp der Entgleisung zu entgehen, ein minimales Keuchen deutet es an. Der Gefühlsausbruch, den man erwartet, ob Schluchzen oder Schrei, bleibt aber wohl irgendwo im Hals stecken. In "Friable" klingt er zwar wie eine verletzte Katze, die um sich beißt, allerdings gefilmt mit einem Filter, in Zeitlupe. Die hörbare, weil eben nicht mühelose Kontrolliertheit verleiht dem Vortrag eine Extra-Intensität, die die Kehle zuschnürt.

Hooks? Wo Glauque hingehen, brauchen sie keine Hooks. Den Gedanken noch nicht zuende gebracht, wartet "Pas Le Choix" doch mit einem Refrain auf, der sich wie ein Angelhaken in die Hirnwindungen bohrt, und als man wirklich nicht mehr damit rechnet, trumpft "Noir", eine verblüffend tanzbare Hymne für alle, die nicht so recht in gängige Schemata passen wollen oder können, sogar noch mit Gesang auf.

Obwohl so sprunghaft, facettenreich und immer wieder überraschend, wirkt "Les Gens Passent ..." wie eine Einheit. Verbindende Elemente spielen dabei sicher eine Rolle, etwa wenn der Tsunami-artige Nachschlag am Ende von "Ego" eine*n in "Bleu.e" schwemmt und dort stranden lässt, erstaunlich sanft. Oder das einem Mantra gleichende Intermezzo "J'te Promets Rien".

Letzteres leitet in "Rance" über, einen einzigen Mahlstrom aus Zukunftsängsten und Selbstzweifeln: "Je crois que je t'évite le pire", glaubt Lemage da seinem imaginären Nachwuchs das Schlimmste zu ersparen, "j'serai jamais un bon père" - vollkommen ungeachtet der Tatsache, dass ihn allein schon diese Bedenken besser für eine eventuelle Vaterschaft qualifizieren als viele, die komplett unüberlegt die nächste Generation auf diesen Planeten schmeißen.

"Plan Large" hat da aber ja längst wie nebenbei die Quelle der tieftraurigen Schönheit preisgegeben, die diese Tracks allesamt durchdringt, umhüllt und zu einem wahrhaftig beeindruckenden Gesamtkunstwerk zusammenfügt: "Quand je me sens trop mal mes couplets sont trop biens."

"J'suis pas un artiste. J'aime pas l'appellation." Tja, letzteres tut mir wirklich leid, das erste bleibt trotzdem Bullshit. Tiefere, vollkommene Wahrheit steckt dagegen in einer anderen Zeile: "... et la musique au sérieux, en vrai c'est juste ce que je fais de mieux."

Trackliste

  1. 1. Plusieurs Moi
  2. 2. Plan Large
  3. 3. Pas Le Choix
  4. 4. Ego
  5. 5. Bleu.e
  6. 6. Noir
  7. 7. Plan Serré
  8. 8. Friable
  9. 9. On Oublie Et On Recommence
  10. 10. J'te Promets Rien
  11. 11. Rance
  12. 12. Deuil

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3 Kommentare

  • Vor einem Jahr

    Die 5 Sterne sind meiner Meinung nach verdient. Sehr atmosphärisches und durchaus komplexes Album, ohne anstrengend zu werden. Eins der wenigen Alben der letzten Jahre die es geschafft haben mich beim ersten Durchgang zu fesseln und wirklich jedes Lied durchzuhören. "Rance" hat mich textlich/thematisch sehr bewegt. "Noir" tatsächlich zum Tanzen animiert. Beim zweiten Durchhören dann die Texte mitgelesen und übersetzen lassen. Da lässt uns der Künstler auf jeden Fall an seinem Innersten teilhaben.
    Der letzte Rapper in Deutschland der das vielleicht so krass getan hat, war Donato mit dem Album "Angst". Schade eigentlich. Rap und Seelengeschichten, vor allem wenn sie musikalisch so dargeboten werden wie hier, passen sehr gut zusammen...

  • Vor einem Jahr

    Super Album. Direkt beim ersten hören schon begeistert

  • Vor einem Jahr

    Es hat bestimmt mit meinen sehr, sehr überschaubaren Sprachkenntnissen plus der teils fast minimalistisch anmutenden musikalischen Untermalung zu tun, aber dieses Ding hat mich streckenweise regelrecht hypnotisiert schon beim ersten Durchlauf - nur um mich dann wieder mit regelrechten Paukenschlägen aufzuschrecken!

    Bin sehr angetan und wünsche mir nur mehr Zeit, auch die Texte lesen / mir übersetzen zu können.