laut.de-Biographie
Hildur Guðnadóttir
"Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern, jemals etwas anderes gemacht zu haben", sagt Hildur Guðnadóttir über ihre Profession. In ihrer Familie sei das Musikerdasein der natürliche Werdegang. Schon mit fünf Jahren erhält sie ihr erstes Cello. Der strenge Unterricht fällt ihr jedoch schwer. "Es gibt einfach so viele Gebote und Verbote in der klassischen Erziehung", bemängelt sie später in der britischen Tageszeitung The Guardian. "Aber als ich anfing, in Bands zu spielen, galten diese Regeln nicht mehr und ich fühlte mich einfach so frei. Das hat meine Sicht auf Musik wirklich verändert."
Hildur Guðnadóttir wird im Spätsommer 1982 in Reykjavik geboren. In der isländischen Hauptstadt sowie an der Berliner Universität der Künste studiert sie Cello und Elektroakustik. Nebenbei spielt sie in Indierockbands und arbeitet mit der isländischen Gruppe Múm, dem finnischen Musikprojekt Pan Sonic und dem schwedischen Duo The Knife zusammen. Zusätzlich probiert sie sich in elektronischer Musik aus, was sie ihr den Weg zu Experimentellerem ebnet. "Experimentelle Musik lehrt einen, offen und vorurteilsfrei zuzuhören", schwärmt sie in einem Making-of von Hollywood Records.
Noch unter dem Pseudonym Lost In Hildurness veröffentlicht sie ihr erstes Album "Mount A", auf dem sie singt sowie Cello, Viola, Harfe und Vibraphon spielt. Im Frühjahr 2009 folgt ihr zweites Soloalbum "Without Sinking". Neben ihrem Vater, dem Klarinettisten Guðni Franzson, ist darauf ihr enger Wegbegleiter Jóhann Jóhannsson mehrfach vertreten, mit dem sie zuvor das Künstlerkollektiv Kitchen Motors gegründet hat. Mit dem Düsseldorfer Hauschka veröffentlicht sie wiederum 2011 das gemeinsame Album "Pan Tone", bevor Guðnadóttir mit "Saman" ein weitere Soloprojekt nachlegt.
Ab 2011 verschlägt es die Cellistin in die Filmmusik. Selbstständig verantwortet sie zunächst kleinere Produktionen aus Dänemark und Island wie "Hijacking" (2012) und "Der Eid" (2016). Von größerer Tragweite bleibt ihr Kontakt zu Jóhann Jóhannsson, der sich zu einem der gefragtesten Filmkomponisten entwickelt. Sie spielt für seine Scores zu "Prisoners" (2013), "Sicario" (2015) oder "Arrival" (2016) Cello ein. Als Duo legen sie 2018 die Musik zu Garth Davis Filmbiografie "Mary Magdalene" vor. Zugleich markiert es das Ende der Zusammenarbeit, da Jóhannsson im selben Jahr in Berlin stirbt.
"Er lebte für die Musik. Sie war sein Ein und Alles. Und während ich hier sitze und in Tränen schwimme, tröstet es mich, zu spüren, wie sehr er die Menschen mit seiner Musik berührt hat", schreibt Guðnadóttir in einem persönlichen Nachruf auf Facebook. "Wenn wir Musik machten, gab es keinen verbalen Dialog. Wir trafen uns an diesem magischen Ort, und die Musik entfaltete sich. Wir haben uns gegenseitig gefördert. Wir sind zusammen gewachsen. Wir haben die dunkelsten und die hellsten Zeiten geteilt. Wir waren musikalische Seelenverwandte. Wir waren beste Freunde."
Der Fokus der Filmproduzenten richtet sich nun auf die Isländerin. Den Score zu "Sicario 2" übernimmt sie nun in Eigenregie. Anschließend arbeitet sie zeitgleich an zwei Projekten, die ihr weltweit Aufmerksamkeit bescheren. Die Serie "Chernobyl" und Todd Phillips' Comicadaption "Joker", die "beide von einer drohenden Kernschmelze handeln", wie es die Zeit ausdrückte. Für das HBO-Format beschränkt sie sich fast ausschließlich auf Feldaufnahmen in einem litauischen Atomkraftwerk. Dafür erhält sie den BAFTA, Emmy, Grammy sowie den World Soundtrack Award.
Wenige Monate später landet die Komponistin mit "Joker" einen noch größeren Coup. Joaquin Phoenix' improvisierter Ausdruckstanz zu ihrem Cello-Spiel auf einer öffentlichen Toilette setzt sich im Gedächtnis fest. "Es war magisch", bewertet Guðnadóttir die Szene später. "Es war einer der intensivsten Momente der Zusammenarbeit, die ich je erlebt habe." Die Kritik zeigt sich gleichermaßen begeistert. "Dass der Film zur Filmmusik selbst gedreht wird, um gleich die richtige Tonart zu setzen, und nicht umgekehrt, das kam zuletzt wohl bei Ennio Morricones Leone-Western vor", beurteilt die Zeit.
Hildur Guðnadóttir erlebt einen wahren Triumphzug. Wie schon im Vorjahr gewinnt sie auch 2021 den Grammy in der Kategorie 'Best Score Soundtrack for Visual Media'. Dazu gesellt sich der Golden Globe und ein Oscar, für den sie sich unter anderem gegen John Williams und Alexandre Desplat durchsetzt. "Ich weiß eigentlich nicht genau, wie es gekommen ist, dass alles plötzlich zu kulminieren scheint, aber es war mit Sicherheit ein wunderbares Jahr und ganz unglaublich, diese beiden Chancen zur selben Zeit zu erhalten", sagt sie auf der Pressekonferenz nach den Golden Globes.
Für "Die Aussprache" läuft sie erneut bei den Golden Globes auf. Es folgen die Scores zum Klassik-Drama "Tár", der Agatha-Christie-Adaption "A Haunting In Venice" sowie die Fortsetzung "Joker: Folie À Deux" mit Lady Gaga. Trotz hoher Nachfrage will sich Guðnadóttir nicht fest an die Filmmusik binden. "Ich werde mich nicht ausschließlich auf Filme konzentrieren; das würde mir irgendwann langweilig werden", sagt die Cellistin The Guardian. "Ich bekomme gerade viele Angebote. Aber es ist mir wichtig, Freiraum zu haben, weil mich die Arbeit so sehr berührt. Ich folge einfach der Neugier."
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