laut.de-Kritik
"Faktenbasierte Musik" gegen die Leugnung des Offensichtlichen.
Review von Dominik LippeWinston Churchill brachte es einst auf eine griffige Formel. "Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium", charakterisierte der britische Premierminister den Staat in einer Radioansprache. Barack Obama sprach später von der Lüge, die der "russischen Macht" überallhin folge. Und auch knapp 35 Jahre nach Auflösung der Sowjetunion bleibt die Russische Föderation eine Blackbox, wie sich praktisch täglich zeigt, wenn Militärs, Politiker und Historiker darum ringen, die imperialistischen Plänen Wladimir Putins in der Ukraine und darüber hinaus auszulegen.
Doch ein Ereignis sorgte dafür, dass sich der sowjetische Nebel kurzzeitig lichtete. Im Kernkraftwerk Tschernobyl im Norden der heutigen Ukraine ereignete sich am 26. April 1986 in Folge von technischem, menschlichem und letztlich systemischem Versagen der schwerwiegendste Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Nuklearenergie. Auf die totale Kernschmelze im Reaktorblock 4 folgte sowjetische Desinformation, die außerhalb der eigenen Grenzen aufgrund des radioaktiven Fallouts in Polen, Deutschland oder den skandinavischen Staaten rasch als solche erkannt worden ist.
2019 nahm sich HBO, Heimstätte des Quality-TVs, des kontroversen Stoffs an. Um der Katastrophe einen musikalischen Rahmen zu geben, setzte der Sender auf die studierte Cellistin Hildur Guðnadóttir. Mit Pan Sonic hatte sie Erfahrungen in der elektronischen Musik gesammelt, mit Múm im experimentellen Pop und mit Hauschka in der zeitgenössischen Klassik. Und zumindest als Orchestermitglied hatte sie auch Einblicke in die Disziplin der Filmmusik erhalten. So spielte die Isländerin ihr Stamminstrument für Ryuichi Sakamotos "The Revenant" oder Jóhann Jóhannssons "Prisoners", "Sicario" oder "Arrival" ein.
"Ziemlich überwältigt" sei sie gewesen, als ihr HBO die Komponisten-Rolle anvertraute. Das Drehbuch habe in ihr eine "beklemmende Angst" ausgelöst, gesteht sie später gegenüber Billboard. "Mir wurde klar, dass ich diesem Gefühl so nahe wie möglich kommen und versuchen musste, es mit meiner Musik auszudrücken", erläuterte Guðnadóttir. "Die Musik musste ausdrücken, wie es sich anfühlte, dort zu sein. Und sie musste die Geschichte von Verlust, Angst und menschlichem Versagen erzählen." Also reiste sie im Sommer 2018 zur "Schatzsuche" nach Litauen.
Im Nordosten ruht das Kernkraftwerk Ignalina, das einst unter der selbstbewussten, sowjetischen Parole "Lenin, die Macht der Partei und die Kraft des Volkes sichern den Sieg des Kommunismus" erbaut worden war. 'Tschernobyls Schwester' hatte den weitgehend baugleichen RMBK-Reaktortyp, der in der Ukraine explodiert war. Als sich der baltische Staat um eine EU-Mitgliedschaft bemühte, verlangte die EU-Kommission, das Kraftwerk aus Sicherheitsgründen stillzulegen. Silvester 2009 wurde es außer Betrieb genommen, doch noch bis 2038 dauert der vollständige Abbau.
Guðnadóttir schlüpfte in einen Strahlenschutzanzug und durchstreifte mit Chris Watson die Hallen und Flure des Kernkraftwerks. Der Toningenieur kannte sich dank seiner Industrial-Band Cabaret Voltaire und seinen Feldaufnahmen für die Naturdokumentationen David Attenboroughs bestens mit der Schnittstelle von Musik und Soundeffekten aus. Stunde um Stunde sammelten sie all die Geräusche des unwirklichen Ortes, die dröhnenden und surrenden Maschinen, den menschenleeren Hall in den Katakomben. Später arbeitete sie die Aufnahmen durch und fügte sie zu Klangcollagen zusammen.
Das Ergebnis lässt sich kaum mit Musik im herkömmlichen Sinne vergleichen. Wie ein eiserner Besen fegt "The Door" durch endlose Betongänge, während ein Maschinenherz dazu rhythmisch kontrahiert. "Bridge Of Death" pfeift und pulsiert bedrohlich. Immer wieder dringen abgründige Schreie einer entvölkerten Zukunft an die Oberfläche. Ein elektromagnetischer Sturm rast durch die verzweigten Flure, bis es die stählernen Schaufeln der "Turbine Hall" wie ein Glockenspiel zum Klingeln bringt. Und "Pump Room" führt ins Kellergeschoss, wo die tödliche Strahlung einen Höhepunkt erreicht.
Abgesehen von "Liður (Chernobyl Version)", für das Guðnadóttir zusätzlich Cello und Piano eingespielt hat, ähnelt der Score weniger ihrem angestammten Terrain der Klassik als vielmehr den kybernetischen Experimenten von Bebe und Louis Barron für "Forbidden Planet". Insbesondere "Waiting For The Engineer" erzeugt mit seinem metallisch-monströsem Grollen diese Assoziation. Auch "Gallery" zeichnet das Kraftwerk als schnaufendes Ungetüm, während die helleren Sounds wie per Knopfdruck an die Alien-Kommunikation aus John Williams' "Close Encounters Of The Third Kind" erinnern.
Auf eine klassische Orchestrierung verzichtete die Komponistin, auf Gesang aber nicht. In mehreren Stücken singt Guðnadóttir mit verfremdeter Stimme. Geisterhaft hallt sie etwa durch "Clean Up", bis die Maschinen heiß laufen, brühheißer Wasserdampf entweicht und sie von der Tonspur verdrängt. In "12 Hours Before" vermittelt ihr glockenheller Gesang ein friedliches Gefühl, als handele es sich um das Happy End eines Science-Fiction-Films. Und "Vichnaya Pamyat" setzt einen menschlichen Schwerpunkt, indem es mithilfe eines Männerchors das Kraftwerk zur Kirche ohne Gott umbaut.
Die essentielle Bedeutung des Raums für die Klangwelten spiegelte sich auch in den ausgewählten Live-Auftritten wider, die Guðnadóttir vor allem in Industrieanlagen führten. 2019 trat sie etwa beim Unsound Festival in der verlassenen Telkom-Telos-Fabrik von Krakau auf. Ein halbes Jahr später führte sie die jenseitigen Sounds von "Chernobyl" im Silent Green Kunstquartier auf, das sich im ehemaligen Krematorium Berlin-Wedding befindet. Und wenige Wochen nach Beginn der russischen Invasion spielte sie den Score bei einem Benefizkonzert für die Ukraine im früheren Heizkraftwerk Berlin-Mitte.
Doch die Methodik birgt jenseits der reinen Ästhetik eine tiefere Bedeutung. "Es war wirklich wichtig, so ehrlich wie möglich zu sein", erzählte Guðnadóttir im Interview mit Steinberg, "und die Musik so wenig dramatisch wie möglich zu gestalten." Jede Form der Verfremdung hätte dem "Geschehenen ein wenig seine Realität" genommen. Die "faktenbasierte Musik", wie die Cellistin es nannte, bildet ab und inszeniert, ohne dem Geschehen etwas anzudichten. Damit stützt sie die Handlung, die vor allem jenen Schaden beleuchtet, der aus politischer Einflussnahme und Manipulation resultierte.
Waleri Legassow (Jared Harris) bringt das eigentliche Thema in der ersten Szene auf den Punkt. Kurz vor seinem Selbstmord 1988 hält der Chemiker, der eine Schlüsselrolle in der Regierungskommission zur Untersuchung der Nuklearkatastrophe inne hatte, seine Erinnerungen fest. "Was ist der Preis der Lüge? Dass wir die Lüge für die Wahrheit halten könnten? Die eigentliche Gefahr ist doch die: Wenn wir nur genug Lügen hören, erkennen wir die Wahrheit nicht mehr." Es ist die Vertuschung der Wahrheit, die Leugnung des Offensichtlichen, die für das sowjetische System so charakteristisch ist.
Wie die Realität gebogen wird, lässt sich exemplarisch an der Diskussion um die Strahlenbelastung festmachen. "3,6 Röntgen, aber das ist der Höchstwert des Geräts", erklärt ein Arbeiter vor Ort. "3,6 - nicht gut, nicht dramatisch", antwortet sein Vorgesetzter auf die offensichtlich unsinnige Messung. Später erklärt ein belustigter Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård), Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR: "Offenbar entspricht das einer Röntgenaufnahme des Brustkorbs. Sollten Sie also mal wieder zur Vorsorge müssen." Nach mehreren Fehlversuchen beläuft sich der korrekte Messwert letztlich auf 15.000 Röntgen.
Die Serie veranschaulicht wie das Missmanagement die Folgen der Katastrophe verstärkt. Anatoli Djatlow, stellvertretender Chefingenieur des Kraftwerks, schickt trotz aller Warnungen einen jungen Mitarbeiter aufs Dach. "Er ist weg. Ich hab' direkt hineingeschaut - ins Innere des Reaktorkerns", erklärt der nun Todgeweihte, bevor er sich übergibt. "Er phantasiert", erwidert der Leiter unbeeindruckt. "Der wird wieder." Und auf der "Bridge Of Death" versammeln sich arglose Schaulustige, um den Brand zu beobachten, während die akustisch eingefangene Strahlung ihr Schicksal besiegelt.
In dieser Form zieht es sich durch die fünf Folgen. Da können die Vögel tot vom Himmel fallen, die Propaganda bemüht sich in erster Linie darum, das eigene unfehlbare Image aufrechtzuerhalten "Unsere Macht beruht auf der Wahrnehmung unserer Macht", betont an einer Stelle der fiktionalisierte Gorbatschow. Und selbst Monate nach der Nuklearkatastrophe gibt die Sowjetunion nur "Propagandawerte" heraus, wie der inzwischen geläuterte Boris Schtscherbina beanstandet. "Der offizielle Standpunkt der Regierung ist, dass eine globale Nuklearkatastrophe in der Sowjetunion nicht passieren kann."
Im Subtext zielt "Chernobyl" damit natürlich auch ins amerikanische Herz, das Donald Trump 2019 in seiner ersten Amtszeit bereits stillzulegen versuchte. Mittlerweile gehört es zum Hauptanliegen der US-Regierung, die Wahrheit als solche zu zersetzen. Bevor im Abspann der letzten Episode zu historischen Aufnahmen der Homin Lviv Municipal Choir der Philharmonie Lwiw "Vichnaya Pamyat" ("ewiges Gedenken") anstimmt, heißt es noch einmal mahnend zum Abschluss: "Wo ich einst den Preis der Wahrheit gefürchtet hätte, frage ich heute nur: Was ist der Preis der Lüge?"
Die Kritik reagierte einhellig positiv auf "Chernobyl". Auch die Zuschauerschaft verteilte Höchstwertungen, wie etwa ein Blick in die IMDb verrät. Zwei Golden Globes und zehn Emmys gingen an die HBO-Produktion. Für Guðnadóttir bedeutete die Miniserie das Ticket in die A-Liga. Als erste Solokünstlerin überhaupt erhielt sie den Grammy in der Kategorie 'Best Score Soundtrack for Visual Media'. Ein Emmy wechselte in ihren Besitz, ebenso der World Soundtrack Award als 'Television Composer of the Year'. Den Preisregen toppte die Isländerin ein Jahr später mit ihrer Musik zu "Joker" sogar noch.
Ihr Score sei "von einer atemberaubenden Intensität" und sprenge "die Grenzen ihres 'Heimatgenres', der klassischen Musik", schrieb Frank Briegmann, CEO der Deutschen Grammophon, in seiner Emmy-Gratulation. Guðnadóttir bilde die "Speerspitze einer neuen Filmmusik-Avantgard, deren atmosphärisch geprägte Arbeiten sich merklich vom klassischen Hollywood-Sound mit ihren oft narrativ orchestrierten Musik-Dramaturgien unterscheiden", urteilte Filmmusik 2000. Die Filmmakers Academy nannte "Chernobyl" gar einen "Triumph der Innovation, des Intellekts und des Einfallsreichtums".
Wenig überzeugend fielen die vereinzelten kritischen Stimmen aus. "Wo ist die Musik, die vom Heldentum der Ersthelfer erzählt?", fragte etwa Movie Music UK in einer ausführlichen Rezension. Nun, die fehlt natürlich, da sie mit Guðnadóttirs Anspruch der "faktenbasierten Musik" bräche. Der Einsatz der Soldaten, Reservisten und schlicht zwangsverpflichteten Arbeiter hatte nichts Glamouröses an sich. Hunderttausende Liquidatoren setzten sich einer extrem hohen Strahlenbelastung aus, als sie das Unglück eindämmten. Bis 1999 sollen bereits 50.000 von ihnen gestorben sein.
2006 blickte Michail Gorbatschow noch einmal auf den Nuklearunfall zurück. "Tschernobyl stellt einen historischen Wendepunkt dar: Es gab die Zeit vor der Katastrophe, und es gibt die völlig andere Zeit, die danach folgte", schrieb der einstige Staatspräsident anlässlich des 20. Jahrestags. "Mehr als alles andere hat die Katastrophe von Tschernobyl die Durchsetzung der freien Meinungsäußerung ermöglicht. Das System, wie wir es kannten, konnte nicht mehr weiter existieren." Und womöglich sei die Nuklearkatastrophe "die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion" gewesen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
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