laut.de-Kritik

Unter David Bowies Schwingen.

Review von

Reihenweise Künstler*innenkarrieren hat Corona geknickt. Mindestens einer hat die Seuche aber auch neues Leben eingehaucht - indem sie Wirkungskreise verkleinerte und so den Blick auf das oft so naheliegende Gute fokussierte. 'Was wohnen nebenan für Leute und was machen die überhaupt?' Diese Frage hatte sich Jamie Lidell vorher wohl einfach nicht penetrant genug aufgedrängt, nachdem er seinen Lebensmittelpunkt nach Nashville verlegt und sich weitgehend ins Private zurückgezogen hatte. Statt unentwegt um die Welt zu jetten, hockten dann aber plötzlich alle um ihn herum ebenfalls zu Hause, und es stellte sich heraus: Huch! In der Country-Metropole wimmelt es offenbar nur so vor klassisch ausgebildeten Musikant*innen.

Neue Crew, neue Impulse, neue Ideen, aber auch neue Prioritäten und neue Themenfelder, dazu ein Typ, der ohnehin seit jeher gefühlt alle drei Schritte auf seinem Weg eine ganz neue künstlerische Richtung einschlägt: Es hätte schon mit dem Teufel zugehen müssen, damit diese Platte einem ihrer Vorgängeralben gleicht. Wie "Places Of Unknowing" dann tatsächlich klingt, überrascht trotzdem gewaltig.

Schon die ersten Töne machen deutlich: Achtung, Sie betreten bisher unkartografiertes Neuland. Percussion, dunkle Streicher und schwer greifbare Backgroundgesänge unterlegen den hellen Leadgesang, der sich unversehens in einen Ausbruch hineinsteigert. Im Anschluss daran klimpert das Piano wild drauflos. Die Texturen verdichten sich, immer mehr Details bereichern Lidells "Inner World", die mal verträumt, mal experimentell erscheint, jedoch nie auch nur in die Nähe konventioneller Songstrukturen gerät.

Kaum hat man sich an das klassische Instrumentarium gewöhnt, ist es auch schon wieder vorbei damit. Nervös sirren und schwirren elektronische Effekte durch "Return Of The Repressed" wie zunehmend lästige Insekten. Fast zwei Minuten braucht dieser Song, ehe er die durchaus unangenehme Spannung in im Kontrast umso angenehmere, wärmere, weichere Töne auflöst. In denen lässt es sich dann eine weitere Minute lang schwelgen.

Schweigend, übrigens: "Return Of The Repressed" bleibt instrumental, und auch im folgenden "How Do I Land" ziehen zwei von filigranem Piano und Percussion bevölkerte Minuten ins Land, ehe Jamie Lidell erneut zu singen anhebt. "I'm lonely and scared", klagt er aus diesem Track, so nachfühlbar, dass sich der Hoffnung "maybe you understand" gar nicht viel anders begegnen lässt, als mit 'Ja, verdammt'.

Dunkle Schönheit breitet sich in "Choraleme" aus, das seiner Üppigkeit zum Trotz verblüffend aufgeräumt wirkt. In "Unmasking" setzt es wieder verfremdete, verrauschte Rückwärtsbotschaften. Gesang wabert heran, und irgendwo im Hall zwitschert ein Vogel. Im Gegensatz zu dieser unwirklichen Traumwelt wirkt "Last Day Of Mourning" mit Klavier, präzise platziertem Gesang und Streichern wie der denkbar krasseste Kontrast.

"The Center" macht seinem Titel alle Ehre: Lidell fährt hier den ganz großen orchestralen Bahnhof auf. Sogar Rührtrommeln kommen zum Einsatz. Der Gesang verschmilzt im Verlauf geradezu mit den Instrumenten, als eines unter vielen, und plötzlich, out of the blue, lässt sich das Gefühl benennen, das schon die ganze Zeit präsent, bisher aber nicht so recht greifbar war: Wie ein Schutzengel schwebt er über der Szenerie, der Geist von David Bowie, der schon seit Beginn alles durchdringt, formt und beseelt. "The Center" als Single auszukoppeln, erscheint so logisch wie mutig: Nichts an dieser Komposition scheint für irgendeine Form von Mainstream gemacht.

Jamie Lidell schont sich nicht, lässt sich bei Seelenqual, Verlust und Trauer zuschauen, denen direkt wieder ein neuer Anfang innewohnt: "I don't know why you had to go", singt er, "but something has to die for something to grow." Der ewige Kreis, er führt in diesem Fall ins weiße Rauschen von "Never Agreed To Play". Das wiederum wirkt, als habe jemand den Filmklassiker "The Fog" auf Songlänge kondensiert, einen Loop aus Nina Simones "Sinnerman" gezimmert, im Nebel ausgesetzt, und sei dann - ungefähr das Letzte, mit dem ich an dieser Stelle gerechnet hätte - mit dem Industrial-Bulldozer durchgepflügt. "Let me heal. And let me grieve." Beides scheint bitter nötig.

Das letzte elektronische Gewitter geht über "Ordinary Dryness" nieder. Stete Wiederholungen wirken beklemmend, Risse tun sich auf. Nein, Behaglichkeit klingt anders. Trotzdem löst Jamie Lidell die Atmosphäre am Ende noch halbwegs sanft auf. Ein bisschen dudelig verhallt das Album, als spielten sie Dub auf einer weit, weit entfernten Kirmes. Seltsam, ja. Aber auch intensiv, traurig, berührend, absolut unique, schlicht wunderschön.

Trackliste

  1. 1. Inner World
  2. 2. Return Of The Repressed
  3. 3. How Do I Land
  4. 4. Choraleme
  5. 5. Unmasking
  6. 6. Last Day Of Mourning
  7. 7. The Center
  8. 8. The Night I Went Crazy
  9. 9. Capture The Moon
  10. 10. Never Agreed To Play
  11. 11. Ordinary Dryness

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