laut.de-Kritik
Sechs Töne für die Ewigkeit.
Review von Manuel Berger"Der, der immer auf einem Bein so cool Querflöte spielt" – Mama schwelgt mal wieder in vergangenen Jahrzehnten. Ja, im Gegensatz zum Großteil meiner Lieblinge im Plattenregal stieß ich auf Jethro Tull tatsächlich über den Musikgeschmack meiner Eltern. Einbeinige Flötisten überzeugten mich, der gerade Slayer und die Böhsen Onkelz entdeckt hatte, zunächst nicht wirklich. Irgendwann allerdings fiel der Satz: "Die Stimme von Metallica klingt genau wie Jethro Tull". Da sah es mit der Neugier schon anders aus.
Wie James Hetfield sang Ian Anderson zwar nicht. Aber "Locomotive Breath" war doch ein ziemlich cooler Song. Nur so ganz ohne Metal? Ich weiß nicht. Wenig später steht ausgerechnet in einer Metalzeitschrift inmitten einer Liste der "250 besten Rock- und Metalsongs" "Aqualung". Wer zwischen Death, Bathory und Metal Church auftaucht, muss wohl einiges draufhaben, denke ich mir.
Zwei Tage später schallen statt Tom Arayas Hassmonologen Ian Andersons Pennergeschichten aus dem CD-Player. Plötzlich waren Kerry Kings Tribal-Tattoos gar nicht mehr so cool. Auch wenn ihr Besitzer 20 bis 30 Noten in derselben Zeit spielt, in der Jethro Tull gerade mal sechs hervorbringen. Der Beginn des Titeltracks brennt sich auf ewig ins Gehirn.
"Sitting on a park bench / Eying little girls with bad intents“, hinterher ein irres Kichern und Gitarrenakkorde, die trotz schwacher Verzerrung Sechzehntelgewichse à la "Angel Of Death" in punkto Heaviness um ein Vielfaches toppen. Innerhalb der ersten Minute des lose in Sonatenhauptsatzform arrangierten Titelsongs, kreiert Ian Anderson ein Bild im Kopf des Zuhörers, wie es meiner bisherigen Erfahrung nach kein anderes Konzeptalbum (ja, ich weiß: Ian Anderson will nicht, dass man "Aqualung" als ein solches bezeichnet) vermag. Der verschlagene, schmutzstarrende, möglicherweise gefährliche Penner Aqualung erwacht zum Leben.
Im folgenden, wieder gut einminütigen, zweiten Abschnitt fügt Anderson dem abschreckenden ersten Eindruck seines Protagonisten eine neue Facette hinzu. Der einsame alte Obdachlose, vom harten Leben auf der Straße körperlich und seelisch gezeichnet, dessen Glauben an eine Besserung längst die Realität eingeholt hat. Leise Akustikgitarre, die sich an eine resignierte Singstimme schmiegt, sanftes Klavier.
Cut, Tempowechsel: Dritter Abschnitt. Die nächsten 72 Sekunden fliegen fröhlich beschwingt vorbei. Band und Sänger nehmen das Thema des vorangegangenen Parts auf und variieren es. Abrupt nimmt Martin Barre dann mit seinem Solo die aufgebaute Geschwindigkeit heraus. Nur um sie kurz darauf noch intensiver zurückzubringen. Das Musterbeispiel eines "Song im Song". Dreimal dürft ihr raten, wie lang dieser fantastische Leadgitarrenausflug dauert.
In etwa genauso lang wie der anschließende "di-dididi"-Teil und die krönende Reprise: plus-minus eine Minute.
Wie gesagt: sechs Töne, sechs Teile, sechs(-einhalb) Minuten – ein Meisterwerk, das für sich allein schon den Meilenstein verdient. Und die Querflöte kam noch nicht einmal zum Einsatz.
Das ändert sich in "Cross-Eyed Mary". Während "Aqualung" klar die Gitarren dominieren, spendieren Jethro Tull ihrer schielenden Hure tänzelnde Flötentöne. Auch dieser Track kredenzt grandiose Melodien und Rhythmen in Hülle und Fülle. Die Stimmung vermittelt wie schon beim Opener gleichzeitig Abneigung und schelmische Sympathie gegenüber den Geschichtsträgern. Ein Phänomen, das sich über das gesamte Album hinweg erstreckt und neben den ausgefeilten Kompositionen nicht unwesentlich dazu beiträgt, die Spannung durchgehend hoch zu halten.
Beeindruckend ist, mit welcher Leichtigkeit die Instrumente zwischen songdienlichem Groove, herrlichen Harmonien und verspielten Soli hin und her springen. Aus einer energischen Drum-Orgelkombo schält sich plötzlich ein wildes Flötensolo, die Gitarre übernimmt, Klaviergetrippel führt zurück. "Cross-Eyed Mary" zeigt das in Reinform.
Doch "Aqualung" lebt nicht nur von ausufernder instrumentaler und kompositorischer Vielfalt. Simple Akustikintermezzi ("Cheap Day Return", "Wond'ring Aloud" oder etwas größer angelegt: "Mother Goose") prägen das Album ebenso entscheidend. Breit arrangierter Prog trifft auf reduzierte Singer/Songwriter-Attitüde. Durch die Kombination dieser beiden Pole entsteht ein Kontrast, der sich erstens beim Hören nicht wie einer anfühlt, und zweitens das jeweils gerade vorherrschende Element hervorhebt.
Folk- und Bargefidel hält in "Up To Me" Einzug. Den gesamten Charakter des Stücks formt eine lockere Jamatmosphäre. Sporadisch mischt sich die nörgelnde E-Gitarre ein, Clive Bunker wirbelt über die Percussions. Hier ein Triller, dort ein Lachen, da ein Klappern, und über allem ein Klavierpattern, das die ganze Chose zusammenhält.
Dem gegenüber steht das epische "My God". Über drei Minuten lang baut sich der Song beständig auf, bevor Anderson schließlich die Querflöte zückt und die zweite Hälfte mit einem unfassbaren Solo definiert. Mal unterlegt ein Männerchor die absurden Klänge, im nächsten Moment ist der Meister wieder völlig auf sich allein gestellt und bereitet das große Finale vor. Statt dieses nach Martin Barres abgedrehten Einwurf dann tatsächlich in die Tat umzusetzen, überraschen Tull mit einem sanften Ausklang.
Nach dem ebenso filigranen, wie verrückten "My God", entfaltet "Hymn 43" seine Macht mit einem unwiderstehlichen Dead-Note-Riff. Dessen erstes Teilstück ruft Erinnerungen an den Beginn des Albums wach; allerdings sind es diesmal sieben Noten.
Ihr rifftechnisches Potenzial haben Jethro Tull zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ausgeschöpft. The best is yet to come. "Slipstream" fungiert als Brücke, dann erklingen die oft vergessenen Pianosilben von "Locomotive Breath". Dass es diese nicht ins kollektive Gedächtnis geschafft haben, liegt vermutlich einzig und allein daran, dass der nachfolgende Rhythmusschlag um so fester verankert ist. Der Grundsatz "Die einfachsten Riffs, sind oft die besten" bewahrheitet sich einmal mehr. So eingängig und badass klingt Progressivität viel zu selten. Ich liebe Zug! Da verzeiht man Anderson gar die Fade Out-Sünde.
Euphorisiert mobilisiert "Wind Up" ein letztes Mal die Tull-Kräfte. Ruhiger Beginn, ruhiges Ende, dazwischen massiver Groove inklusive "Locomotive Breath"-Zitat und Gitarrensolo. Das abschließende Balladencrescendo hinterlässt wohlige Wärme, Gänsehaut und einfach das Gefühl, soeben eines der besten Alben aller Zeiten gehört zu haben. Diesen Eindruck verstärkt das auf diversen Neuveröffentlichungen hinten angestellte "Lick Your Fingers Clean" sogar noch. Wenn auch mit anderen Mitteln. Hier regieren Flöte und mainstreamkompatible Stadiontull.
Egal mit welchem Song man endet – "Aqualung" ist und bleibt einer der ganz großen Höhepunkte der Musikgeschichte. Sechs Noten und ein Tuff-tuff für die Ewigkeit.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
8 Kommentare mit 8 Antworten
Ah mein erstes Tull-Album, der beginn eine großen Liebe. Insbesondere der Titeltrack hat mich schon immer fasziniert durch seine Tempowechsel und die verschiedenen Stimmungen, die erzeugt werden. Ein rundum perfektes Album und sicherlich einer der Meilensteine des Progrock. Wenn in den nächsten Wochen noch Genesis, Hendrix und Thin Lizzy kommen bin ich vollends zufrieden.
Sehr schöne Platte. Ich fände TAAB aber meilenstein-würdiger. Warum? Das war einfach die n Schlag ins Gesicht für alle Konzeptalben, das selbst ein fettes Konzept war. Herrliche Scheibe.
Mother Goose ist mein Lieblingsstück zusammen mit Wondring Aloud. Aqualung's Riff ist natürlich zurecht überall hoch gelobt worden.
Sehr gute Rezension auch. Werde gleich nochmal das Aqualung-Vinyl auflegen
Alle Meilensteine in den letzten 4 bzw. 5 Jahren sind musikalisch gerechtfertigt usw, aber um ehrlich zu sein, ich bin seit 3 Jahren genervt; WANN KOMMT ENDLICH EIN MEILENSTEIN VON YES??? Und ich meine nicht Fragile, Close to the Edge oder Tales from Pornogrphic^^ Ocean oder Relayer( die finde ich eh schlecht, Moraz war nach Wakeman eine Fehlbesetzung in meinen Augen) sondern Drama oder, ich warte bis mich die Musiknerds unter euch steinigen werden, also los, ich habe nichts mehr zu verlieren, DRAMA ODER 90125; ACH SAGEN WIR GLEICH BIG GENERATOR, ok das Letzte war ein Scherz, Big Generator gefällt mir nicht so gut wie eben 90125, also (sehr)lange Rede, kurzer Sinn, Meilenstein von YES seit 2 Jahren überfällig!!!
Also nur weil dein Lieblingsalbum nicht als Meilenstein rezensiert wird, musst du nicht rumweinen. Deine Meilenstein würdigen Alben sind alle musikalisch fad. Fragile ginge klar.
Fragile niemals, die Hälfte des Albums sind in meinen Augen nur Lückenfüller. Höchstens Close to the Edge, dass höre ich auch gerne ab und zu moodycurmudgeon
Danke für den Lüpfer, hab das Meilensteinwerk grad nochmals genossen, nach gefühlten 30 Jahren wiedermal mit einer 96er 25th anniversary CD. Jeder Track ein Kunstwerk.
So nach 2 Jahren komme ich endlich mal dazu, den Schreiber dieses Meilensteins zu danken. Durch diesen Text hab ich mir das Album zugelegt und, wow, was für ein Album. Da ist ja schon so viel drin, was ich bei späteren Bands so liebe plus dieser unkopierbare Stil dieser Kombo inklusive Flöte. Also vielen Dank für diesen Meilenstein, wenn auch spät