laut.de-Kritik

Die vergessenen Wegbereiter von Blumfeld, Die Sterne und Co.

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In den mittleren 80er-Jahren hielt man melodischen Indie auf Deutsch für undenkbar. Doch parallel zum Industrial im Berliner Underground wagte man in der westfälischen Provinz Bad Salzuflen erste Gehversuche in diese Richtung auf dem Kassettenlabel Fast Weltweit, auf dem die späteren Akteure der Hamburger Schule ihre ersten Singles in Kleinauflage veröffentlichen sollten. Jetzt!, die deutsche Antwort auf den Agitprop-Pop von The Style Council und die Sentimentalität von Orange Juice, hat man dagegen größtenteils vergessen. Die Werkschau "Liebe In Grossen Städten 1984-1988" mit Singles, Sampler-Beiträgen, Promos und unveröffentlichten Demos will dies ändern.

Die einzige Konstante des wechselnden Line-Ups dieser von 1984 bis 1987 bestehenden Formation ist Sänger und Gitarrist Michael Girke. Im halbakustischen "Es War Einmal In Deutschland" fragt er: "Peter Hein, wo bist du?" Dabei haben Jetzt!, genauso wie Fehlfarben, mit ihren kritischen Bestandsaufnahmen oftmals das Politische im Privaten thematisiert.

In "Kommst Du Mit In Den Alltag?", das nicht zu überhörende The-Smiths-Referenzen im Gitarrenspiel aufweist, singt Girke: "Weißt du noch, unter der alten Brücke, wir hatten uns fest geschwor'n, anders zu sein, als die Leute in den Büros". Von der Spießigkeit ihrer Mitbürger wollten sich Jetzt! letzten Endes abgrenzen. Man träumte von einem besseren Leben. Zu Beginn der 70er betonte dies Rio Reiser mit einer nach außen gerichteten revolutionären Haltung. Demgegenüber kündet am Ende des Tracks ein Chor von einer Veränderung im Stillen und Sensiblen mit den Zeilen: "Nieder mit den Umständen, es lebe die Zärtlichkeit."

Blumfeld coverten dieses Stück auf dem 1999er-Album "Old Nobody". Empfindsame Themen standen auf der Agenda. Sänger Jochen Distelmeyer spielte, ebenso wie Frank Spilker von Die Sterne, seine frühen Aufnahmen für das Bad Salzuflener Label ein. Beide Bands sollten letztendlich in den frühen 90ern den Diskurspop der Hamburger Schule begründen.

Michael Girke zog es dagegen nach Berlin. Mit Drummer Oliver Mills und Bassist Mijk Van Dijk fand er dort die Idealbesetzung für Jetzt!. Die Promo "Liebe In Grossen Städten", zugleich der Namensgeber dieser Compilation, spielte man 1987 wiederum in Bad Salzuflen für Fast Weltweit ein. Für die Aufnahmen zeichnete sich Frank Werner zuständig. Eine richtige Veröffentlichung dieser fünf Stücke gab es nie. Nach der Rückkehr in die Mauerstadt konnte man im hiesigen subkulturellen Geschehen nur wenig Fuß fassen. Von ihrem sentimentalen Indie-Sound nahm zwischen Kreuzberg und Schöneberg kaum jemand Notiz. Neben "Kommst Du Mit In Den Alltag?" befand sich auf diesem Tonträger einer der ehrlichsten Liebeskummersongs in deutscher Sprache: "Herbst In Berlin".

Zu melancholischem Jangle-Pop in Anlehnung an Felt und Orange Juice reflektiert Girke das Großstadtleben: "Ich bin jetzt überall dabei, um dich zu vergessen, wir haben uns kaum gekannt, doch genug, um uns zu trennen." Indes malt er sich eine gemeinsame Zukunft aus und ergänzt: "Ich hoffe nicht das Beste für dich, ich hoffe, dass du zurückkehrst." Im weiteren Verlauf löst sich der Wahlberliner von seiner einstigen Idealvorstellung dieser Beziehung und versucht, diese für ihn ausweglose Situation anzunehmen. Am Ende resümiert er: "Man macht das Beste aus dem, was bleibt. "

"In Einem Ort Ohne Jede Bedeutung", von der ebenfalls regulär nie erschienenen 4-Track-Single "'87", handelt von der Sehnsucht, der Provinz zu entfliehen. Dort findet man die Textstelle: "Ich weiß nicht, wie man hier bekommt, was man will, ich weiß nur, wie es ist, wenn man es vermisst." Es geht somit nicht nur um die ewige Suche nach Glück, sondern vor allem um die verpassten Chancen im Leben. "Unsere Wilden Jahre" beschreibt dieses Gefühl noch um einiges konkreter: "Wir bekamen von allem ein bisschen, nichts bekamen wir richtig, in unseren wilden Jahren." Damit knüpft Michael Girke an britische Indie-Vorbilder wie Aztec Camera an. Die mit der Adoleszenz verbundenen Schwierigkeiten formulierte jedoch kaum ein Songschreiber zuvor so präzise und treffend in deutscher Sprache.

Seine musikalische Entwicklung von stürmischen Nummern wie "Meine Stille Generation" (1984), der einzigen jemals offiziell veröffentlichten 7"-Single von Jetzt!, bis zu den akustischen Klängen von "Ein Lied, In Dem Alle Fiesen Sterben", das Anfang 1988 unter Girkes Namen auf einer Compilation erschien, ist mehr als bemerkenswert. Auf diesem Solotrack heißt es: "Bernd Begemann wird kommen, schreibt euch ein Lied, das es von mir nicht gibt." Danach hing der Musiker wegen des ausbleibenden Erfolges seine Karriere an den Nagel. Dass man seinen Traum nicht ohne Einschränkungen realisieren kann, wusste man da längst von seinen Songtexten.

Wegen schlechter Vertriebswege und vor allem weil sie mit ihrer intelligenten deutschsprachigen Indie-Musik ihrer Zeit mindestens eine halbe Dekade voraus waren, genossen Jetzt! nie die Anerkennung, die sie verdient haben. Dabei leistete die Band die geistige Vorarbeit für das, was man nach der Wiedervereinigung von Ost und West als Hamburger Schule bezeichnete. "Liebe In Grossen Städten 1984-1988" lässt diese Umschwungsphase im Verborgenen noch einmal Revue passieren. Diese umfassende und hervorragende Werkschau schließt somit die große offene Lücke zwischen Fehlfarben und Blumfeld.

Trackliste

  1. 1. Meine Stille Generation
  2. 2. Vielleicht-Menschen
  3. 3. Herbst In Berlin
  4. 4. Du Bist Nicht Allein
  5. 5. Wenn Deutschland Träumt
  6. 6. Kommst Du Mit In Den Alltag?
  7. 7. Warum
  8. 8. Das Dorf Am Ende Der Welt
  9. 9. Hoffentlich Passiert Bald Was
  10. 10. Acht Stunden Sind Kein Tag
  11. 11. Mitten Im Krieg
  12. 12. Es War Einmal In Deutschland
  13. 13. Unsere Wilden Jahre
  14. 14. Ein Deutsches Leben
  15. 15. Winterschlaf
  16. 16. Ein Lied, In Dem Alle Fiesen Sterben
  17. 17. In Einem Ort Ohne Jede Bedeutung

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