laut.de-Kritik
Live im Musikantenstadl der 50er.
Review von Michael SchuhDas Leben hält manchmal die seltsamsten Zufälle bereit. 11. September, sämtliche TV-Programme voll Anteil nehmender Sendungen über 9-11 und die Folgen. Doch uns gelüstet es nach einem DVD-Abend: zwei Konzerte von Johnny Cash aus den späten 50ern, Bier und Chips sowie die Kollegen Mengele und Straub in trauter Eintracht, Country & Western statt WTC und ARD. Zwölf Stunden später ereilt uns in der Redaktion die Nachricht, dass Johnny Cash in dieser Nacht verstorben ist, beinahe zeitgleich mit dem Ende unserer Reise in seine Vergangenheit.
Eine traurige, wenn auch persönliche Geschichte. Dazu passt vorliegende DVD "Johnny Cash At Town Hall Party", denn sie macht Musikgeschichte lebendig: Die Bildqualität ist zwar nicht immer fabelhaft, dasselbe gilt für den Ton, doch selbst diejenigen, die Cash zu Lebzeiten einmal live bewundern durften, können kaum für sich behaupten, den Mann Ende der 50er Jahre bei den Town Hall Parties in Kalifornien erlebt zu haben.
Man muss sich das so vorstellen: Seit 1952 buchten die "Town Hall"-Organisatoren eine Art Scheune in Compton außerhalb von L.A. und luden angesagte Country-Stars ein, die zum Tanze aufspielten. Ein dreistündiger Western-Musikantenstadl, dessen erste Stunde live im Fernsehen übertragen wurde. Dass in jener gefährlichen Gegend, die dreißig Jahre später mit N.W.A. die Väter des Gangster-Raps hervor bringen sollte, ein Mann vors Mikro trat, der im berühmten Satz "I shot a man in Rheno, just to watch him die" eines der zentralen Issues vorweg nahm, wirkt beim Betrachten der ausgelassenen Dorffest-Szenerie geradezu gespenstisch.
Beim ersten Auftritt im November 1958 ist Cash nach drei Jahren gerade frisch von Sam Philipps' Sun Records geschieden und weist dementsprechend häufig auf "our new Columbia record" hin, die wenige Tage später in den Läden steht: "The Fabulous Johnny Cash". Seine Mitstreiter sind die Tennessee Two, Bassist Marshall Grant und 'the one and only' Luther Perkins an der Gitarre, die groovende Ölgötze, dessen von Zurückhaltung geprägte, regungslose Mimik dem Star beinahe die Show stiehlt.
Auf beiden Konzerten, die übrigens trotz des Farbcovers s/w-Aufnahmen sind, mixt der akkurat frisierte und leidenschaftliche Performer Cash neue Columbia-Songs ("It Was Jesus", "Frankie's Man Johnny") mit alten Sun-Singles fürs Publikum ("I Walk The Line", "You're The Nearest Thing To Heaven"). Bei der '59er Show ist Cash schon viel bühnensicherer und wagt auch mal Gitarrenposen ("Big River"). Mit der umwerfenden Elvis-Persiflage ("Heartbreak Hotel") lässt er eine für seine frühen Jahre berühmte Star-Imitation vom Stapel. Im Hintergrund ergänzen drei weitere Musiker das Tennessee-Trio, so dass der typische "boom-chaka-boom"-Sound hier gnadenloser umgesetzt wird. Ohne Zweifel ein Zeitdokument der besonderen Art, das zu Cashs bekannten Gefängnisaufnahmen einen idyllischen Gegenpol bildet.
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