laut.de-Kritik
Ergreifende Hippie-Aura mit Akustik-Kollektiv.
Review von Philipp KauseFünf Live-Alben und eine Sammlung von Radio-Mitschnitten gibt es bereits von Joni Mitchell. Drei davon sind älteren Datums, aus der Zeit vor ihrem ersten Plattenvertrag. Ein Tour-Dokument entstand direkt nach dem "Court And Spark"-Album, meinem persönlichen Favourite aus Mitchells Katalog. Eine weitere Live-Doppel-LP erschien zuletzt 1980. Mit "At Newport" liegt jetzt ein aktuelles Bühnenzeugnis von hoher Qualität und Symbolik vor.
Bei Mitchell ergeben die Lieder eines Zeitabschnitts durchaus ein sinnvolles Ganzes. Dennoch bieten ihre Live-Releases die Chance, Best Of-Querschnitte entlang ihrer Karriere zu erleben und sich somit ihren durchweg gehaltvollen Alben schrittweise anzunähern. Außerdem ist sie eine anspruchsvolle Gitarristin, die die Akustische bereits in den 70ern gleichzeitig als Rhythmus und Melodie-Lead-Instrument einsetzte. Kongenial fingerflink und einprägsam sprang sie an den Saiten. Nach einer schweren Gehirnblutung im Jahr 2015 und einer noch viel längeren Bühnenpause, überlässt sie die Klampfe Taylor Hawkins von Dawes. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme ...
Denn dass sie wieder singen kann, gleicht einem Wunder. Nun trat sie im Juli 2022 bei dem legendären Festival überraschend auf, auf dem sie 43 Jahre zuvor ewigen Folk-Ruhm ergatterte. Newport ist eigentlich ein Jazzfestival. Ganz in meinem Sinne stand auch "Just Like This Train" aus besagtem "Court And Spark" auf dem Spielplan, und zwar in einer wunderschönen, brillanten Instrumentalfassung. Das skelettierte Lied spricht auch so für sich, und hier findet die Ausnahme statt: Joni, die zeitweise nicht mal mehr laufen konnte, bewegt die Arme an der Gitarre. Das verlangt ihr so viel Konzentration ab, dass sie nicht zeitgleich singen kann. So oder so, ein Ereignis!
Klar, dass es sich ihre 42-jährige Kollegin Brandi Carlile nicht nehmen ließ, das Konzert anzusagen, mit ihr live im Duett zu spielen und eine CD davon zu produzieren. Zur Star-Besetzung zählt Marcus Mumford an den Percussions. Carlile hatte zu Ehren ihres Idols bereits ein tolles Tribute-Album und -Konzert auf die Beine gestellt. "At Newport" stellt jetzt einen besonders raren Leckerbissen dar. Denn Joni hatte seit Frühjahr 2000 keine Konzerte mehr gegeben, stand abgesehen von ein paar Shows mit Herbie Hancock (2008) seither nicht mehr auf der Bühne.
"Nie zuvor hab ich sowas erlebt", staunt die Klarinettistin der Show, Allison Russell, im Hauptjob selbst eine freakige Singer/Songwriterin, und erläutert der Zeitung Toronto Globe And Mail: "Jonis Freude war greifbar. Sie lachte nach jedem Song, und ihr schlug eine Welle der Liebe und Wertschätzung von (...) ihren 10.000 neuen besten Freunden entgegen." - Das befreite Lachen hört man ab und an auf den Aufnahmen, und, ja, die Stimmung muss fantastisch gewesen sein. "Die hoch emotionale Performance der 78-jährigen Ikone fegte die Festivalgänger, die in Person Zeugen wurden, weg, und machte die vielen glückselig, die das Set nachher auf YouTube erhaschten", so der Konzertkritiker der Zeitung. Der remasterte Mitschnitt unterstreicht es jetzt: perfekte, allerfeinste Unterhaltung!
"Newport ist ein ganzes Stück weg von Laurel Canyon", sagt Brandi Carlile zur Einstimmung und spielt auf die Holzhütte in der Lookout Mountain Avenue im kalifornischen Laurel Canyon an. Die Kanadierin Joni tankte dort zwischen 1969 und '74 Inspiration.
"Let's make history!", heizt Brandi Carlile ein ("Introduction by Brandi Carlile") - Auftakt zu einer monumentalen Show mit einfachen Mitteln und Leuten auf der Bühne, die sich gut verstehen. Das Set in Rhode Island an der Ostküste führt vom legendären "Both Sides Now" aus "Clouds" (1969) bis zur Blueprint-Hippie-Hymne "The Circle Game" von 1970 ("Ladies Of The Canyon"). Auf das zackige "Carey ft. Brandi Carlile" (als Chorvortrag von Joni und Brandi) aus "Blue" (1971) folgt die stark abwandelnde, entschleunigte und lange Soul-Jazz-Fassung des übermächtigen Klassikers "Help Me" ("Court And Spark", 1974), hier mit Celisse.
Premiere als Live-Mitschnitt feiert eine Nummer der '91er-CD "Night Ride Home", hier als elegisches, superharmonisches und malerisches "Come In From The Cold ft. Taylor Goldsmith". (Hat nichts mit der gleichnamigen Bob Marley-Nummer zu tun, wobei Melodie, Melancholie und Groove durchaus ein bisschen ähnlich klingen.)
Stimmstark führt das einmalig zusammen getretene Ensemble "The Circle Game" als Come-together-Lagerfeuer-Hymne auf, und man meint, sie beamen einen geradewegs auf dem Zeitstrahl ins Jahr 1970. Richtig stimmig, voller Feuer und mit der Kraft der akustischen Instrumente eins A rüber gebracht! Nicht ganz synchron läuft es zwischen den beiden Lucius-Sängerinnen Jess und Holly und Joni in "Big Yellow Taxi ft. Lucius". Wobei das Lied unkaputtbaren Charme besitzt und die etwas ungelenke Darbietung ganz süß wirkt. Vor allem liefert die Band eine auffallend kraftvolle Akustikfassung.
Danach umschlingen Joni Mitchells und Marcus Mumfords Stimmen einander in dem verklärend mit Josh Neumanns Cello verzierten "A Case of You ft. Marcus Mumford". Das Original findet sich auf dem Meilenstein "Blue". Mitchell erwägt jene Platte nach einigem Zögern als ihren eigenen Favoriten, als Brandi sie auf der Bühne zum Gesamtwerk befragt. "I'm a lonely painter / I live in a box of paints", heißt es in dem autobiographisch geprägten Stück. Joni hat stets die Cover-Illustrationen ihrer Platten selbst gemalt und sich nach dem Ausstieg aus der Musik noch mehr der bildenden Kunst hingegeben. "A Case Of You" drückt die ganz besondere Mischung aus Melancholie, Romantik, Intimität und Hippie-Freiheit aus, die als Mixtur so typisch für Mitchell-Lieder über die Folkrock-Geschichte des 20. Jahrhunderts strahlt. Und Jonis Stimme meistert hier sogar Vibrato-Figuren. Nicht nur in Hinblick auf ihr Hirn-Aneurysma, sondern auch mit Rücksicht auf ihr Alter (demnächst 80) beeindruckt die Leistung.
Wo "Amelia ft. Taylor Goldsmith" die schräge, jazzige, schroffe und stark gewöhnungsbedürftige Seite Jonis auswalzt (Original: 1976 auf "Hejira"), siegt in "Shine ft. Brandi Carlile" die Eingängigkeit. Alleine, um diese Aufnahme aus den Lautsprechern donnern zu lassen, lohnt sich die Anschaffung von "At Newport". Da zeigt sich, was passiert, wenn Musiker*innen ohne zu proben aufeinander treffen und in Adrenalinrausch, Spaß und Repertoire-Kenntnis wie von selbst durch ein Lied schweben. "Shine" war ursprünglich sphärischer Kammermusik-Jazz und stammt vom gleichnamigen Album von 2007, Jonis letzter Studioplatte.
Wie sehr Brandi Fan von Joni Mitchell ist, lässt sich außerdem auf "Joni 75: A Birthday Celebration" hören, wo James Taylor, Chaka Khan und Brandi Carlile eine neue Version von "Big Yellow Taxi" darbieten und weitere Tribute-Höhepunkte erklingen. "At Newport" glänzt derweil als ein Tribut, bei dem die Geehrte selbst im Mittelpunkt steht und performt, während die Bewunderung ihrer Mitspieler sich ungebremst durch die Aufnahmen zieht. Must-Have für Storyteller-, Folk-, Rock-, Jazz- und Live-Fans!
1 Kommentar
Ich warte auf den Edit ohne Brandi Carlile.