laut.de-Kritik
Gravitätischer Irish-Folk mit Grusel-Ästhetik.
Review von Yan TemminghoffDer musikhistorisch verbürgte Widerstreit zwischen Ars Antiqua und Ars Nova im 14. Jahrhundert entzündet sich mit Blick auf die Geschmäcker der Generationen jeweils aufs Neue. Heutzutage steht man vor der Herausforderung, im riesigen Genre-Geflecht passende Musik zu sichten, für die man nur noch die Zeit finden muss, sie mit Muße zu hören. Gewissermaßen als Antithese zu den Höher-Schneller-Weiter-Formaten bewahrt sich der Folk von Lankum den Fokus auf die Melodie und die Geduld. Die instrumentale Begleitung folgt den frei schwebenden Tempi der Tonfolgen und illustriert mehr als dass sie strukturiert.
Zudem wiegt die Individualität der Live-Aufführung mehr als die Urheberschaft der jeweiligen Komposition. Zehn der zwölf Stücke auf dem passenderweise "False Lankum" betitelten Album der aus Dublin stammenden Folk-Erneuerer sind Fremdschöpfungen aus fernen Zeiten, die jedoch durch die Klangästhetik und die mehrstimmigen Gesänge an Selbstständigkeit gewinnen. Das Artwork mit den Konterfeis der Bandmitglieder erinnert an Filmplakate, was die szenische Gestaltung des Materials unterstreicht.
"The New York Trader" übernimmt die Formation von der aus Ringsend stammenden Irish Folk-Legende Luke Cheevers. Inhaltlich dreht sich der Plot um ein Verbrechen an Bord eines Schiffes, dessen Aufklärung übernatürliche Züge in sich trägt. Dass es streng nach Seemannsgarn gehend auch Verluste gibt, die über Bord gehen, versteht sich von selbst. Ein amerikanisches Kleinod mit dem Namen "Big Black Cat", das wiederum auf den im Text anklingenden Aberglauben anspielt, rundet den Song ab.
In Sachen Grusel-Ästhetik heulen Lankum den Mond an wie Anna Von Hausswolff. Zwar verquicken sie ihren Traditional nicht mit Black Metal wie Zeal & Ardor, gehen aber ähnlich grenzgängerisch zu Werke mit dem Fokus auf Atmosphäre und Klanggestaltung.
Das Gros der Tracks bilden ausufernde, mäandernde Stücke, deren minimalistische Struktur das Abgleiten in ein Anarchie-Abenteuer verhindert. Das Klangkarussell zieht nur scheinbar dieselben Bahnen. In der sich stetig ändernden Kulisse aus Sound-Schichten und miteinander ringenden und liebenden Melodien taucht es in der Wahrnehmung in stets nuancierter Veränderung auf.
Die Insel Irland, das Grün und das Grauen, bildet den landschaftlichen Hintergrund für das Wirken von Lankum. Dabei gehen die Geister im Kopf und die Gespenster in Ketten Hand in Hand und dienen als Richtschnur, um im Werden und Vergehen eine Haltung zu haben. "Go Dig My Grave" schreitet über gravitätische Bordun-Töne zum Friedhof und gräbt ein tiefes Loch in die Seele, aus der wehmütig eine Totenklage erklingt, bevor der Opener in einem Totentanz endet. "Master Crowley's" vollzieht innerhalb intensiver sechs Minuten die Wandlung von den Masters Of Pubs hin zu den Gods Of Hell-Folk.
Die Arbeit an "False Lankum" beginnt 2021 mit einem Perspektivwechsel. Dublin - seit zehn Jahren Heimat der Band - betrachtet das Quartett auf einer Anhöhe in Killiney stehend, den Wind die Haare zerzausend. Dieses 360-Grad-Panorama verursacht zunächst Entfremdung, dann aber die Bereitschaft, etwas Neues entstehen zu lassen. Das Studio trägt den passenden Namen Hellfire und hilft dabei, die Stimmung aus Pandemie-Wirren, Aufbruch und Traditionsbewusstsein einzufangen.
Ein bewusst auf vielen Ebenen zum Einsatz kommendes Stilmittel ist das Ausreizen der Extreme: Mittels Klangspektrum, Dynamik und Harmonieverständnis entlocken die Iren dem minimalistischen Melodie-Material die unterschiedlichen Schattierungen und schillernden Sequenzen. Die Kontrastierung zeigt sich bei der Titelliste. Die drei Fugen teilen als geisterhaft-verhuschte Instrumental-Stücke die Platte in einzelne Kapitel. Man trifft auf lichtdurchwirkte Momente wie "On A Monday Morning" oder alptraumhaftes Abgleiten wie im Opener.
Im dreizehnminütigen Closer "The Turn" kulminieren die Stimmungen und schlagen Salti. Eine liebliche Melodie erklingt zu Beginn - hört hier noch jemand die Tonfolge von "O Du Fröhliche"?. Danach übernimmt der fiebrige Wahnsinn Regie. Die Harmonien in Gesang und Akkordik im Refrain begleiten stetig neue Klang-Gewänder, vornehmlich in dunklen Grundtönen. Die Percussion-Begleitung verschlucken düster dräuende Drones, die die letzten vier Minuten bestimmen und der letzten Hoffnung den Zahn ziehen.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Wirklich extrem folkig und alles irgendwo schon mal so ähnlich gehört. Interessant ist allerdings die düstere Atmosphäre in den Texten und in der musikalischen Umsetzung.
Hammerplatte, die trotz ihres düsteren und niederschmetternden Charakters auch immer wieder Momente betörender Schönheit besitzt. Wird dank hervorragender Spannungsbögen trotz der ausladenden Länge nie langweilig. Album des Jahres bislang.
Fans von Anna von Hausswolff, Swans oder auch Pink Floyd sollten unbedingt mal reinhören, sei mal dazugesagt.
hatte literally tränen in den augen beim ersten hören von lord abore and mary flynn. was für ein eindringliches stück, das ganze album im grunde.
Perfektes Herbstalbum, irgendwie.