laut.de-Kritik
Reminiszenz an eine der kreativsten Partybanden.
Review von Michael SchuhEs ist der erste Song des ersten Madness-Albums. Es ist der Schlachtruf, mit dem alles begann: "One Step Beyond". Zunächst hallt er nur aus kleinsten Londoner Spelunken heraus, zieht dann immer weitere Kreise, bis er schließlich, im Spätsommer 1979, aus über tausend Kehlen donnert: One Step Beyoooond. Es muss eine verrückte Zeit gewesen sein:
England legte sich geschlossen sieben Teenagern zu Füßen, die nichts anderes verbrochen hatten, als den Song eines alten Jamaikaners namens Prince Buster in doppelter Geschwindigkeit nachzuspielen. Die Band The Specials wagte kurz zuvor ein ähnliches Experiment mit ihrem Song "Gangsters", der bei Buster noch "Al Capone" hieß und urplötzlich war Punk tot.
So tot, dass der Ausstieg Johnny Rottens bei den Sex Pistols im eben noch zutiefst verschreckten Königreich kaum mehr als eine Randnotiz wert war. Don't watch that. Watch This. Die Revolution hieß Ska, auf den Fahnen stand 2-Tone und Madness gehörten zu den Aufständischen. Doch an vorderster Front kämpften sie nicht.
Selbst in Momenten offensichtlichster Offbeat-Huldigungen und trotz verrücktester Klamauk-Videos (alle auf "The Lot" enthalten!) konnte manch waches Ohr bereits damals erkennen, dass es der Partybande um mehr ging, dass sie insgeheim einen größeren Plan verfolgte.
Ihre Songs umwehte stets eine naive Leichtigkeit, zu der sich gut feiern ließ, doch hinter den so typisch beschwingten Piano-Akkorden und wirbelnden Saxophon-Einlagen verbarg sich leise Melancholie, durch die Madness-Songs letztlich zu zeitlosem Pop und die Band zu nationalem Kultur-Heiligtum auf Augenhöhe mit den Kinks erwachsen konnte.
Dies geschah in den 80er Jahren, als England von der harten Hand der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher geführt wurde. Songs über steigende Arbeitslosenzahlen konnte man von Madness jedoch nicht erwarten. Einen politischen Song in der Form des Specials-Hits "Ghost Town" wäre dem Septett niemals eingefallen.
Oder wie Sänger Suggs es formulierte: "If we'd wanted to talk about politics, we'd have formed a debating society, not a fucking band". Madness entpuppten sich schnell als Meister in einer anderen Kunstform: im Verfassen humorvoller Anekdoten des Alltagslebens, die zu erzählen sie in bemerkenswerten Details imstande waren.
Ob über die lästigen Schulzeiten ("Baggy Trousers"), komplizierte Beziehungskisten ("My Girl"), Oldtimer-Autos ("Driving In My Car") oder persönliche Familienverhältnisse ("Our House"), die Analyse fiel stets haarsträubend präzise und in schnodderigstem Cockney-Akzent aus. Einen Song "Cardiac Arrest", also Herzstillstand zu nennen, wäre vielleicht auch The Police eingefallen. Die hätten ihn aber niemals als Single ausgekoppelt.
Alle sechs Madness-Studioalben legen von dieser hohen Kunst der ungekünstelten Direktheit Zeugnis ab, was allein schon Grund genug ist, sich das Boxset "The Lot" zuzulegen. Selbst wenn das letzte Album "Mad Not Mad" von 1986 definitiv "not mad" ausfiel, vielmehr ideenlos und ausgebrannt klingt. Die Box dokumentiert den Reifeprozess einer Band, die trotz allen Erfolgs erst lange nach ihrer Auflösung, in den 90er Jahren nämlich, zu einer Stadionband aufstieg.
Und sie räumt mit dem weit verbreiteten Missverständnis auf, Madness seien die Singles-Band schlechthin gewesen. Ohne große Songs wie "House Of Fun", "It Must Be Love" oder "The Sun & The Rain" abwerten zu wollen, aber sie alle waren auf keinem Madness-Studioalbum vertreten.
Dort tummelten sich mitunter die wahren Song-Perlen, wie etwa der Crescendo gepeinigte Piano-Ska von "Swan Lake" ("One Step Beyond"), die heimliche Hitsingle "Disappear" ("Absolutely") oder das auf den Spuren der Vergangenheit wandelnde "Rise And Fall" des gleichnamigen Albums.
Erst durch diese Wandlungsfähigkeit wurden Madness zu Vorbildern neuer Musikergenerationen wie Blur und zu späten Superstars. Seit 1992 tritt die Band wieder in Originalbesetzung auf und lässt sich von einem Publikum feiern, das in den sloganverhafteten 80er Jahren so niemals hätte zusammen finden können.
Jung und alt, Glatzkopf und Matte, Lonsdale und Sir Oliver, Doc Martens und Adidas; identitätsstiftende Marken spielen heute keine Rolle mehr. Es geht nur noch um den "nuttiest sound around". One step beyond.
2 Kommentare
Leute.. Interviews doch bitte langsam mal kommentierbar einstellen. Oder zumindest mal nen Statement dazu abgeben.
Wir warten auch alle sehnlichst auf die Kommentierbarkeit und freuen uns, wenns so weit ist. Bis dahin bitte noch ein wenig Geduld, wir haben es auf dem Schirm!