laut.de-Kritik

Düstere Worte, überzuckerter Sound.

Review von

Wenn man sich – Stand jetzt! - in der englischen Wikipedia die "List of soft rock artists and songs" anschaut, stolpert man zwischen den Bee Gees, den Carpenters und Chris de Burgh unweigerlich über einen Namen: Manic Street Preachers. Seit fast zehn Jahren gebe ich hier nun wirklich mein Bestes, um zu beweisen, dass ich keine Ahnung von Musik habe, aber zumindest war ich mir sicher, dass Bradfield, Wire und Moore für ebenso ausufernden wie melodiösen Alternative Rock stehen. So kann man sich täuschen.

Das Problem an "The Ultra Vivid Lament": Irgendjemand muss den Walisern den Eintrag gezeigt haben. Das noch größere Problem: Sie haben es geglaubt. Also begannen sie, die neuen Songs anstelle auf der Gitarre auf dem Klavier zu komponieren, und beschreiben das Ergebnis als The Clash, die die gerade von den Toten auferstandenen ABBA spielen würden.

Daran ist erst einmal gar nichts falsch. Zusammen mit dem Melodiegespür der Manic Street Preachers könnte daraus etwas Interessantes entstehen. Doch nur weil man in gefühlt jedem dritten Song das Klavier in bester "Waterloo"-Manier nach unten stolpern lässt, ist man noch nicht ABBA, und wo sich hier The Clash verstecken, bleibt ein Rätsel. Eins, dass sich wiederum hinter dem seltsam weichen Breitwand-Sound des Longplayers verstecken könnte. Dieser fordert insoweit heraus, dass er nicht weniger herausfordern könnte.

Nach James Dean Bradfields fulminanten "Even In Exile" lagen die Erwartungen möglicherweise auch zu hoch, doch gerade in der zweiten Hälfte klingt "The Ultra Vivid Lament" wie die Manic Street Preachers auf Autopilot. War bei dem Solowerk das Thema klar gesteckt, fasern die gewohnt sozialkritischen und politischen Texte diesmal wieder in alle Richtungen aus.

Was den Longplayer trotz aller Kritikpunkte doch rettet? Das sichere Händchen der Band für Melodien und hymnische Refrains. Andere Acts würden sich für Songs wie "Orwellian" und "Quest For Ancient Colour" alle Zehennägel abschneiden lasen. Selbst auf ihren schwachen Alben, die niemals Komplettausfälle sind, schütteln die Manics diese aus dem Ärmel, als sei es das Einfachste der Welt, solche zu schreiben.

Der überzuckerte Sound steht den oft düsteren Worten entgegen. "We live in Orwellian times / It feels impossible to pick a side", eröffnet die Band das melodramatische "Orwellian". In nicht einmal vier Minuten packen sie einen ambitionierten Text über die unter anderem von digitalen Plattformen vorangetriebene Spaltung, den Zusammenbruch von Beziehungen und unserer Kommunikation, Fraktionskonflikten und überhaupt allem Bösen. Manche nehmen dazu Doppelalben auf, andere schreiben ein Buch, den Manics reicht ein "Words wage war, meanings being missed / I'll walk you through the apocalypse."

Wires eleganter Bass trägt "The Secret He Had Missed". Eine Geschichte über die walisischen Maler:innen Gwen und Augustus John, dessen Frontposition sich Bradfield mit Julia Cumming (Sunflower Bean) teilt. Ihre Stimmfarbe erinnert dabei an die Kylie Minogue der 1990er. Vom Gegenüber beflügelt, jagen sie sich durch die Strophen, die an die glorreichste Zeit der Waliser erinnern. Leider geht ihnen im Refrain ein wenig die Lust aus. In "Quest For Ancient Colour" singt Bradfield: "Boredom your biggest enemy." Bei vielem, das nach diesen ersten gelungenen fünf Stücken geschieht, darf man sich durchaus die Frage stellen, ob man als Hörer:in nicht zu den schlimmsten Feinden der Manic Street Preachers zählt.

Mit "Don't Let The Night Divide Us" beginnt "The Ultra Vivid Lament", rapide abwärts zu taumeln. Der Song könnte in seinem biederen Rock-Gewand kaum spießiger ausfallen. Ein deutscher Text drauf, und das Ding könnte ohne großartige Änderungen einen Platz auf dem nächsten Heinz Rudolf Kunze-Album finden.

"Diapause" lebt hauptsächlich von der aufgebauten Stimmung und dem Gitarrenspiel, darunter fehlt es aber etwas an Substanz. Während Mark Lanegans Gastauftritt in "Blank Diary Entry" finden er und Bradfield keine Verbindung, bleiben sich fremd. Die zerzupfte Stimme des ehemaligen Screaming Trees-Frontmanns wirkt in dem Ambiente des Albums wie ein Alien, das nur darauf wartet, endlich wieder von diesem rätselhaften Planeten verschwinden zu dürfen.

Die Langweile wird mehr und mehr zum Leitmotiv. Kurz vor Ende der "The Ultra Vivid Lament"-Abwärtsspirale frohlocken die Manic Street Preachers noch einmal, sie seien "Happy Bored Alone". Kaum dass der Closer "Afterending" beginnt, wünscht man sich, man hätte ihnen besser zugehört und sie alleine gelassen. Dieser Song verfügt über alles, das einen guten Track der Band ausmacht, batikt ihn aber im Kitsch und hängt dann noch einige "Lalala"-Buttons dran. Harter Tobak.

Auf die gesamte Spielzeit bleibt "The Ultra Vivid Lament" in zwei Hälften zerrissen. Nach einem guten Start docken gerade in der zweiten die oft zu abgetragenen und altbekannten Versatzstücke nicht mehr an, sie gehen keine Verbindung ein. Wie sehr dies auch von der Produktion und dem Sound abhängt, zeigen die davon befreiten, vielfach spannenderen Demo-Versionen der "Deluxe-Edition" sehr deutlich.

Trackliste

  1. 1. Still Snowing In Sapporo
  2. 2. Orwellian
  3. 3. The Secret He Had Missed
  4. 4. Quest For Ancient Colour
  5. 5. Don't Let The Night Divide Us
  6. 6. Diapause
  7. 7. Complicated Illusions
  8. 8. Into The Waves of Love
  9. 9. Blank Diary Entry
  10. 10. Happy Bored Alone
  11. 11. Afterending

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