laut.de-Kritik
Samische Tradition trifft westliche Moderne.
Review von Kai KoppDer französische Schriftsteller Romain Gary meinte einst: "Avantgardisten sind Leute, die nicht genau wissen, wo sie hinwollen, aber als erste da sind." Mari Boine ist angekommen. Mit "Sterna Paradisea" ist sie dort angelangt, wo sich samische Tradition und westliche Moderne treffen, verschmelzen und ineinander aufgehen.
Sich selbst versteht Mari Boine weder als Avantgardistin, noch als Traditionalistin. "Ich greife zwar alte Traditionen aus meinem Volk auf, entwickele sie aber weiter, und mache etwas Eigenständiges daraus."
So ist es. Davon singt sie auf "Sterna Paradisea" insgesamt elf Lieder, auf denen der Prozess ihrer künstlerischen Neuausrichtung, an dem sie seit "Eight Seasons" (2002) arbeitet, dem Höhepunkt entgegen strebt. Die Balance zwischen samischer Tradition und westlicher Moderne zu finden, fordert jedoch Opfer: Das Boine-typische Joiken tritt etwas in den Hintergrund.
Mit Hilfe der Joikgesänge stellten die Schamanen der Samen in früheren Zeiten den Kontakt zu Geistern und Göttern her, um um Heilung zu bitten. "Indem ich mich mit dem Joik-Gesang beschäftigte und selber joikte, konnte ich die Verletzungen, die die norwegische Gesellschaft den Samen zugefügt hat, verarbeiten", formuliert es Boine.
Mit "Sterna Paradisea" scheint ihr persönlicher Heilungsprozess abgeschlossen zu sein. Die zu Grunde liegende versöhnliche Stimmung präsentiert die Sängerin in Bestform.
Der Opener "Lene Májjá" verdeutlicht eindrucksvoll, welche Zauberkraft Mari Boines Musik inne wohnt. Ein kraftvoller Trip Hop-Beat, eine Tenor-Mandoline, die klanglich an eine Oud erinnert und eine Trompete, die sich wie ein Flügelhorn anhört, eröffnen mit einer packenden Hookline. Dann setzt der Gesang von Mari Boine ein, der widerstandslos in den Bann der samischen Tonlandschaft führt. Ein öffnender Refrain, einer der gelungenen Sorte, krönt "Lene Májjá" - tolle Einführung.
Höchst kontrastreich und auf gleichbleibend hohem Niveau gestaltet sich auch die Fortsetzung. Das schlagzeuglose "Conversation With God" zeigt sich im Singer/Songwriter-Gewand, bis es im Refrain vom Chorgesang der Abaqondisi Brothers als Südafrika-Lappland-Connection entlarvt wird. Die ebenfalls südafrikanische Sängerin Lathozi Mpahleni Manquin Madosini rundet das grandiose globale Geschehen ab. "Ich hatte schon seit langem den Wunsch, meine Musik einmal von afrikanischer Musik beeinflussen zu lassen", verrät Boine die Motivation dieses Nord-Süd-Dialogs, der im Big Beat-dubbigen "The Mischievous" seine Fortsetzung findet. Gnadenlos gut!
Ebenso wie der countryeske Snare-Groove und die treibende Basslinie auf "Courting Jewellery", auf deren Basis Boine ihre samischen Texte durchs Arrangement jagt. Diese stammen übrigens zum Großteil aus der Feder der beiden Autorinnen Rawdna Carita Eira und Kerttu Maarit Kirsti Vuolab, die sich gerne der samischen Mythologie bedienen, um, wie in "Soria Moria Palace", mittels Legenden und Märchen moderne Politik und Wirtschaft zu hinterfragen.
Im Reich der Elfen und Trolle ist Mari Boines Sound gut verortet. Der Reichtum der gekonnt in ihre traditionellen Wurzeln eingewebten Kontraste setzt sich bis zum Ende der Spielzeit bei 48:18 fort.
Zugegeben, der ein ("Entranced") oder andere Song ("When Night Is Almot Done") erreicht nicht ganz das Qualitätslevel, das die neun Songs vor ihnen vorgeben. Dennoch bleibt "Sterna Paradisea" eine lohnende Bereicherung für Sympathisanten nordischer Klanglandschaften.
Den Lorbeerkranz für die gelungene Produktion darf sich Tonmeister Svein Schultz aufsetzen, während der Preis für die beste Einzelleistung an Trompeter Ole Jørn Myklebust geht, der mit seinem sensiblen Spiel einen intensiven und nachhaltigen Eindruck hinterlässt.
Und Mari Boine? Mari Boine ist angekommen! Dort, wo sich samische Tradition und westliche Moderne treffen, verschmelzen und ineinander aufgehen.
Noch keine Kommentare