laut.de-Kritik

Eine liebevolle Liaison aus Rock und Klassik.

Review von

Die letzte reguläre Studioplatte von Marillion datiert auf das Jahr 2016. Langeweile kommt aus Fansicht dennoch nicht auf. Drei Alben mit entweder Liveaufnahmen oder neuen Arrangements sind in der Zwischenzeit erschienen. Abseits der Band haben zumindest Pete Trevawas mit Transatlantic ("The Absolute Universe") sowie Mark Kelly auf seinem Solo-Debüt "Marathon" ihre kreative Ader ausgelebt.

2021 grüßt das Quintett wieder als Kollektiv von der Live-Front. Die bemerkenswerten Neufassungen mit Streichquartett und Horn respektive Flöte auf dem Output "With Friends From The Orchestra" beantworten Steve Hogarth und Co. mit einer Live-Nachlese mit dem sinnigen Titel "With Friends At St David's".

Worin besteht nun der Mehrwert im Vergleich zur Studio-Fassung? Bei einem Abgleich von Live-Setlist und Album-Tracklist fällt direkt auf, dass die Briten einen großen Wert auf Dynamik und Dramatik legen. Der Start in der St Davids Hall in Cardif markiert eine cineastische Version von "Gaza". Erstens ist dieser Song nicht auf dem Studioalbum zu finden, zweitens gelingt die Umsetzung facettenreich und drittens ist das Thema Nahost-Konflikt hochaktuell.

Dem Motto das Beste kommt zum Schluss folgend platzieren Marillion die beiden eindringlichsten Stücke am Ende. Die schwelgerische Ballade "Fantastic Place" besticht mit einem fantastischen Feeling-Solo von Steve Rothery. In "The Strange Engine" erklingt schlicht die Quintessenz des Neo Prog, Überlänge inklusive.

Stets changiert die Gruppe zwischen großen Gesten und dem kammermusikalischem Ambiente. Hier hört der Fan die ultimative Verbindung des intimen Rahmens, wie er auf der Veröffentlichung "Less Is More" zu Gehör gebracht worden ist, mit einer festlichen Konzert-Atmosphäre wie bei "Live At The Royal Albert Hall"-Platte.

Ein weiterer Mehrwert liegt in der visuellen Umsetzung. Einerseits ist es wunderbar den Musiker:innen beim Spiel zuzusehen. Andererseits unterlegt die Band den musikalisch-textlichen Fluss mit entsprechenden Video-Einspielern. In "Hollow Man" flackern die Konterfeis von sympathischen Politikern wie George W. Bush, Boris Johnson und Wladimir Putin über den Bildschirm.

Die Zeilen "Flyin' high in a scary sky" aus "The New Kings" begleitet zunächst eine unaufgeregte Einspielung aus Wolkenformationen, aus denen sich weitere Bilder herausschälen und im harten Part in eine hektische Abfolge münden. Vereinzelt agiert die Band auch mit Lyric-Video-Sequenzen, was in der Summe eine abwechslungsreiches und abgestimmtes Stimmungsbild ergibt.

Das Zusammenspiel bei einer Live-Aufführung ist lebendiger und intuitiver. Marillion und ihre klassischen Kumpel beherrschen dies perfekt. Kleinere Unsauberkeiten tragen zum Konzert-Empfinden bei. Gut, dass diese im Mix beibehalten worden sind. Das hier präsentierte Konzept ertrinkt nicht im sinfonischen Bombast. Jede Finesse dieser liebevollen Liaison aus Rock und Klassik tritt deutlich hervor. Musikern und Mix ist vorbehaltlos das Prädikat Weltklasse zu verleihen.

Auch eine gestandene Neoprog-Größe, die zahlreiche Formationen wie Gazpacho oder Sylvan beeinflusst hat, weiß um ihre Wurzeln. Eine Hommage an den musikalischen Budenzauber Anfang der Siebziger stellt "Zeparated Out" dar. Hier bauen Marillion eine schmissige Referenz des Led Zeppelin-Klassikers "Kashmir" ein.

Der Kapitalimus-kritische Song "The New Kings" lebt vom stimmlichen Kaleidoskop eines Steve Hogarth. Mal wälzt er sich im Storytelling, mal kitzelt er die Höhen in der Kopfstimme. Während des ersten Höhepunktes hebt Hogarth schließlich ab und intoniert voller Inbrunst die Zeilen "We're too big to fall, we're too big to fail".

Bei Marillion ist man schnell in Versuchung, das Etikett Wohlfühlprog zu vergeben. Warum? Der Sound ist warm und weichgezeichnet. Die Zeitverläufe extrem gedehnt. Die emotionale Bandbreite und Themenvielfalt hingegen ist schier grenzenlos. Oder um es auf einen Vergleich mit menschlichen Gemütszuständen zu beziehen: An einem sonnigen Tag klingt die Musik shitegal, bei einer Schlechtwetter-Front kann sie lebensrettend sein. "With Friends At St David's" beweist eindrücklich, worin die Qualitäten dieser Band liegen.

Trackliste

DVD 1

  1. 1. Gaza
  2. 2. Beyond You
  3. 3. Seasons End
  4. 4. Estonia
  5. 5. The Hollow Man
  6. 6. The New Kings

DVD 2

  1. 1. The Sky Above the Rain
  2. 2. Zeperated Out
  3. 3. Ocean Cloud
  4. 4. Fantastic Place
  5. 5. This Strange Engine
  6. 6. Man Of 1000 Faces (Live In Paris)
  7. 7. Estonia (Promo Film)

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