laut.de-Kritik

Ich hab' gelitten, geweint, vor Schmerz geschrien.

Review von

An das "Buch zum Film" hat man sich mittlerweile notgedrungen gewöhnt. Massiv bringt nun das "Album zum Buch". Sie erscheint zwar erst Mitte Oktober, doch die Biografie des rappenden Kolosses wirft massige Schatten voraus. Ich bin schwer gespannt, ob den Mann, der urplötzlich statt aus dem Wedding wieder "aus dem winzig kleinen Pirmasens" kommen möchte, für seine Lebensgeschichte mehr und vor allem Originelleres einfällt, als die Audio-Ausgabe von "Solange Mein Herz Schlägt" bietet.

Okay, wir wissen es schon und haben dies an anderer Stelle bereits gewürdigt: Im krassen Gegensatz zu seinen ersten Stolperversuchen auf dem Rap-Parkett hat Wasiem Taha mächtig zugelegt. Ganze Sätze ersetzen längst die hingehusteten Wortbrocken. Grammatik-Böcke stehen inzwischen auf der Roten Liste, die unfreiwillige Komik früherer Tage ist beinahe ganz verloren gegangen.

Massiv gibt sich mittlerweile als der nachdenkliche Ghetto-Philosoph, der - die Bebilderung seines Booklets verrät dies so deutlich wie die Beschwörung der großen Vorbilder in "Höher Als Der Rest Der Welt" - nur zu gerne im Windschatten der verehrten Ikonen wandeln würde. Wären die Fußstapfen von Nelson Mandela, Dr. Martin Luther King, Malcolm X, Che Guevara, Mahatma Gandhi und Muhammad Ali bloß nicht gar so groß!

Neben seinen erklärten Helden wirkt Massiv dann halt doch so winzig, dass man beim Bo hurtig Teleskop und Mikrofon gegen ein Mikroskop eintauchen möchte, um ihn überhaupt noch ausmachen zu können. Zudem bemüht er immer die gleichen Bilder. Die undurchdringliche Wand, den in die Freiheit fliegenden Adler, den Araber in Handschellen: alles schon da gewesen. Erstaunlich, dass diesmal kaum ein Mond ins Ghetto kracht.

Versucht Massiv sich doch einmal an neuen Metaphern, geraten die so unpassend, dass es schon fast wieder niedlich anmutet. Ich seh' es schier vor mir: Ein Schrank mit angenähten Engelsflügeln (!) auf dem Rücken eines Pferdes (!!), reitet gen Palästina. Heimatland, da werden Kleinmädchenträume wahr. Um die schummerige Stimmung noch etwas auszuwalzen, zündet der Kerl alle Nas' lang eine Kerze an. Herzig.

Ach, es klingt gleich wieder so garstig. Soll es gar nicht, ehrlich! Irgendwie erscheint mir der unbeholfene Riese inzwischen sogar sympathisch. Da er aber auf Albumlänge ausschließlich strapazierte Phrasen des Kalibers "Leb' deine Träume!", "Jeder ist seines Glückes Schmied" oder "Steh' wieder auf!" drischt, wünscht man sich trozdem, Massiv hätte seinen eigenen Traum entschlossener verfolgt. Aus ihm wäre unter Garantie ein heldenhafter Feuerwehrmann geworden. Statt dessen müht er sich an Texten und Themen ab und überrascht einzig und allein mit der Offenherzigkeit seiner Selbsterkenntnis: "Ich wurde leider nicht gesegnet mit Talent." Ach! Übrigens: "Verletzt zu werden, tut weh."

Wenn Massiv dann doch einmal aus all seinem Elend ausbricht, geschieht das derart unvermittelt, dass man sich an den Kopf fassen möchte. Klar bedarf es thematisch nur eines kleinen Schrittes von den toten Kindern in "Wir Vermissen Dich" zu "Schnapp' dir die Kalaschnikow, zersiebe deinen Opferclan". Derlei Zusammenhänge dürften aber kaum beabsichtigt sein.

Der ansonsten vorherrschende Einheitsbrei langweilt gewaltig, zumal den versammelten Herren Produzenten dazu offensichtlich auch nichts anderes einfällt, als die immer gleichen Versatzstücke aus dem Melancholie-Baukasten neu zusammen zu würfeln: Klavier und Streicher. Die schmalzige Hook, um den Mumpf komplett zu machen, steuern dann wahlweise Sefo, Manuellsen, Rapsouls Heulsuse CJ Taylor oder die kieksige Jelisa bei.

Wenn Massiv in diesen Schmachtfetzen-Kulissen, etwa in "Dein Herz Explodiert" umspült von Düdelü-Streichern, Oooh-Gesang und Klaviergeklimper auch noch die gute alte Zeit und konservative Werte besingt, sind wir inhaltlich wie musikalisch endgültig im Sprechgesangs-Schlager angekommen. Der ZDF-Fernsehgarten und Carmen Nebel warten um die Ecke.

Ein wenig Farbe kommt immerhin noch ins Bild: KD-Beatz' Synthies hinter "Hassan Vs. Teufel" klingen zwar, als entstammten sie der "Please"- oder "Actually"-Phase der Pet Shop Boys - was aber ja keineswegs eine Rüge darstellt. Abaz' Bässe im ansonsten überflüssigen zweiten Teil des Titeltracks grummeln ordentlich. Ebenso gefällt die Wucht aus dem Hause Jumpa-Beatz, die die nächtliche Blaulicht-Disko beschallt.

Massivs einstige Alleinstellungsmerkmale, der Ingrimm und das verrückte Überschnappen seiner Stimme, gehen indes in all der Suhlerei im Selbstmitleid - "Ich hab' gelitten, geweint, vor Schmerz geschrien" - nahezu komplett verloren, blitzen nur noch ein, zweimal auf.

So lohnt sich tatsächlich einzig und allein die Hymne an Boxer Manuel Charr: In "Diamond Boy 2012" stimmt vom "Rocky"-Sample bis zur "Von der Straße für die Straße"-Attitüde jedes Detail - bis auf den Umstand, dass das Leben die Nummer schon wieder überholt hat: Vitali Klitschko hängte Charrs Serie von 21 Kämpfen und 21 Siegen erst unlängst einen wenig dekorativen technischen K.O. an. Der Koloss von Köln ist damit nicht länger ungeschlagen, trotzdem gehört ihm die fraglos beste Nummer auf "Solange Mein Herz Schlägt". Jetzt aber her mit dem Buch, Ring frei für die nächste Runde!

Trackliste

  1. 1. Träume
  2. 2. Erinner Dich
  3. 3. Solange Mein Herz Schlägt feat. Sefo
  4. 4. Dein Herz Explodiert
  5. 5. Höher Als Der Rest Der Welt feat. Manuellsen
  6. 6. Entweder - Oder
  7. 7. Wir Sind Keine Engel feat. Jelisa
  8. 8. Du Nennst Dich Bruder?
  9. 9. Hassan Vs. Teufel
  10. 10. Solange Mein Herz Schlägt Pt. 2 feat. CJ Taylor
  11. 11. Bei Nacht Ist Disko
  12. 12. Wir Vermissen Dich
  13. 13. Al Massiva Beutejagd beat. Beirut & Granit
  14. 14. The Diamond Boy 2012
  15. 15. Setz Deine Sonnenbrille Auf Bro feat. Granit

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Massiv

"Ihr wollt 'n Ghettolied auf'n Ghettobeat? / Komm nach Wedding, dann wisst ihr, wo das Ghetto liegt / Das ist mein Bezirk, geh von hier nicht weg / Liebe …

213 Kommentare

  • Vor 12 Jahren

    "Ich hab' gelitten, geweint, vor Schmerz geschrien" - DAS wäre eine Überschrift für diese Album-Review gewesen.

    Ist ja schön, dass Massiv mal aus dem Panzer aussteigt, um im Hippie-Bus nach Palästina zu tuckern, aber er besetzt leider immer so extreme Positionen.
    Entweder 120% "Ich kille alle" oder 120% "Ich heile alle" - beides ist nicht ohne Ohrenbluten zu ertragen.

  • Vor 12 Jahren

    Setz deine Sonnenbrille auf, Bro :D

    Ein paar zitierte (Punch)Lines wären nett gewesen, nur um einzuordnen, inwieweit Massiv sich verbessert hat...anhören werde ich mir das Album sicher nicht.

  • Vor 12 Jahren

    Klar bedarf es thematisch nur eines kleinen Schrittes von den toten Kindern in "Wir Vermissen Dich" zu "Schnapp' dir die Kalaschnikow, zersiebe deinen Opferclan".

    :D