laut.de-Biographie
Meshell Ndegeocello
Meshell Ndegeocello kommt 1969 in Berlin als Mary Johnson zur Welt. Ihr Vater, ein amerikanischer Soldat, wird kurze Zeit später zurück in die Heimat USA versetzt. Die Familie Johnson reist nach Washington, wo Meshell als Teenagerin das Bassspiel erlernt. Ihr Talent und ihre disziplinierte Ausdauer lassen sie zu einer Musikerin reifen, die schon während des Studiums mehr Zeit im Proberaum und auf der Bühne als im Hörsaal verbringt.
Nach ersten Achtungserfolgen mit einer Go-Go Band (Little Benny & The Masters) folgen einige Gigs mit Steve Coleman, Living Colour und anderen kreativen Köpfen. Meshell ist längst mehr als ein Geheimtipp und so engagieren sie Arrested Development Ende der Achtziger als "Musical Director". Um diese Zeit ändert sie auch ihren Namen. Aus Mary wird Meshell, aus dem aussagelosen Allerwelts-Johnson wird NdegéOcello, was in Swahili "frei wie ein Vogel" bedeutet.
Inzwischen mit mehreren Preisen ausgestattet und in der Szene bestens bekannt, erhält sie Anfang der Neunziger einen Vertrag bei Maverick, dem Label von Superstar Madonna. 1993 erscheint ihr Debütalbum "Plantation Lullabies", das von der Fachpresse ekstatische Kritiken erntet. Darauf spielen u.a. Geri Allen (Piano), Wah Wah Watson (Gitarre) und Joshua Redman (Saxophon).
Trotzdem verkauft sich die Platte schlecht. Zu unbequem präsentiert sich Meshell: "Wir Amerikaner sind ein ungebildetes Volk. Es gibt hier anscheinend nur Leute, deren gesamtes Wissen aus dem Fernsehen stammt. Unsere TV- und Wrestling-Kultur, die kritisiere ich." Zu den wenigen Käufern zählen allerdings die Rolling Stones, Alanis Morissette, Chaka Khan, Santana, Basement Jaxx, Arrested Development, Living Colour und Prince, die sie in der Folge für gemeinsame Projekte ins Studio einladen.
1996 erscheint ihr zweites Album "Peace Beyond Passion", dem ein ähnliches Schicksal wie dem Debüt widerfährt: Von der Presse hoch gelobt, vom Volk verschmäht. Auch für das drei Jahre später erscheinende "Bitter" ist dieser Lauf der Dinge vorherbestimmt. Immer noch ist sie keinem großen Publikum bekannt, immer noch ruft ihr Name ein stammelndes "... kannst du das buchstabieren?" hervor. Daran ändert auch ihr viertes Album "Cookie: The Anthropological Mixtape" und die Namenserweiterungen Bashir (Freudenbote bzw. im Lied) und Suhaila (sanft, leicht) nichts.
Sperrigen, urbanen und entblößend ehrlichen Funk verbindet sie mit der Suche nach einem besseren Verständnis der Welt und des Lebens, nach mehr Miteinander, mehr kritischem Nachdenken und reflektiertem Hinterfragen. "Im Moment erleben wir das Ende der Religion. Ich hoffe, dass ich in meinem Leben noch das Ende des Konzepts 'Rasse' erleben werde".
Mit "Dance Of The Infidel" (2005) verlässt sie ihre angestammte Bühne des 'Urban Funk' und begibt sich eindeutig auf die Bretter, die den Jazz bedeuten. Gemeinsam mit namhaften Hochkarätern der improvisierten Musik (Jack DeJohnette, Kenny Garrett, Roy Hargrove, Mino Cinelu, Don Byron u.a.) zelebriert sie einen abwechslungsreichen und spannenden Ausflug in den Kosmos des modernen Jazz. Freilich nicht, ohne ihre großstädtischen Groovevorstellungen zum Ausgangspunkt ihrer Reise zu machen.
Meshell Bashir Suhaila Ndegeocellos klare und direkte Offenheit ist prägendes Merkmal ihres Charakters und ihrer Musik. Ihr künstlerischer Anspruch, die gesellschaftliche Wirklichkeit wider zu spiegeln, wird genährt von der einfachen Erkenntnis: "Wenn ich mir das Zeug anderer Leute anhöre, reflektiert es nicht das, was mir passiert. Wenn irgendwann mal jemand zurück schauen sollte, will ich nur, dass er weiß, dass da auch Menschen waren, die sich über andere Dinge Gedanken gemacht haben".
Diesem Anspruch kommt sie mit dem 2007 erscheinenden "The World Has Made Me The Man Of My Dreams" vollumfänglich nach, auf dem sich u.a. Pat Metheny als Gast tummelt. Das Rätsel um die Namensgebung klärt sie so: "Nach Jahren der vergeblichen Suche nach dem Mann der Träume bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass man sich selbst zum Mann seiner Träume machen muss". Dass es sich dabei um einen "persönlichen, kleinen Scherz" handelt, gibt sie natürlich gerne zu.
Meshell Ndegeocello leitet "The World Has Made Me The Man Of My Dreams" mit einer Ansprache des amerikanischen Islam-Gelehrten Hamza Yusuf ein. "Dabei handelt es sich um Ideen und Offenbarungen des Propheten (Mohammed), ohne Zeitvorgabe. Sie verweisen lediglich darauf, dass mit der Zeit Veränderungen eintreten werden", erläutert sie im Interview mit dem Jazzthing-Magazin. Auf die Frage, warum sie diese Rede ausgewählt habe, erläutert sie: "Sie sagt mir etwas. Es geht um Dinge, die auch ich beobachten kann."
Mit dem 2009 erscheinenden Longplayer "Devil's Halo" nimmt Ndegeocello einen Kurswechsel vor. Der Funk begibt sich in den Hintergrund. Sie erarbeitet sich ein ganz eigenen intimen Klangkosmos als Singer/Songwriterin. Diesen zementiert sie mit den nachfolgenden "Weather" und "Comet, Come To Me".
Wer wie Meshell Ndegeocello intensiv und (selbst-) kritisch nachdenkt, weiß sogar die heikle Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. "Der Sinn des Lebens? Du solltest versuchen durchzukommen, ohne dich oder irgendjemand anderen zu verletzen."
Dass dies eine Illusion ist, zeigt sich für die USA spätestens nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten und dem Erstarken der Alt.Right-Bewegung. Die zunehmend kunstfeindliche, homophobe und rassistische Stimmung in ihrer Heimat ist der bekennend bisexuellen Amerikanerin ein Dorn im Auge. Parallel kämpft sie mit privaten Trauerfällen.
Als Ergebnis dieses Gemütszustands veröffentlicht sie 2018 "Ventriloquism". Die Platte enthält elf Coversongs und wird ihr mit Abstand melancholischstes Album im Katalog. Dennoch möchte sie die Platte nicht als Downer werten: "Vertraute Lieder können verschüttete Kräfte neu erwecken. Dieses Gefühl möchte ich den Menschen in diesen schwierigen Zeiten schenken".
2021 verwickelt Adrian Younge die Funkerin in eine YouTube-Diskussion über Feminismus. Da hat er fast schon Glück, dass sich Ndegeocello in der Pandemie ein bisschen Zeit für eine Interview-Situation abringt.
Obwohl sie spätestens seit Sarah McLachlans 'Lilith Fair'-Females-Only-Tourneen als ikonische Frau am elektrischen Bass zählt, fast so wie Suzi Quatro, liegt die Frage nach ihren Positionen zu Gender in der Musikkultur eigentlich nahe. Überraschend wehrt sie jedoch ab: "Seit ich andere Quellen als die meiner Geschichtslehrer heranziehe, um meinen Geist zu befreien, tue ich mir schwer mit der Sprache des Feminismus. Denn ich wünsche mir für meinen Bruder und für meine Schwester das Gleiche, und Gender-Rollen entwickeln sich mit der Zeitgeschichte und nehmen neue Formen an. Als Musikerin arbeite ich daran, eine Gemeinschaft zu bilden. Als Musikschaffende haben wir einen ganz besonderen Status. 'Gender' und alles mögliche andere transzendieren wir. Denn wir kommen zusammen, um etwas Upliftendes, Aufbauendes zu schaffen. Etwas, was das Selbstbewusstsein stärkt, aber mit provozierendem Gedankengut. Und in dieser Funktion klinke ich mich aus dieser Konversation aus", erklärt sie ihr Berufsverständnis in aller Ruhe.
Beim Label Blue Note startet sie 2023 in ein neues Kapitel ihrer Karriere durch. Das "Omnichord Real Book" voller Gäste und mit einigen Instrumentals nutzt die Formenfreiheit des Jazz. Es entzieht sich irgendwelcher roter Fäden oder gar des Prinzips der Durchhörbarkeit. Stilistisch kramt die Doppel-LP aus verschiedenen Stationen von Michelles Laufbahn Elemente hervor und rotiert um einen eigentümlichen Electrojazz-Vibe, den die Multiinstrumentalistin aber so oft aufbricht, dass man zum Hinhören gefordert wird.
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http://www.youtube.com/watch?v=K0ov9082a1c