laut.de-Kritik
Er baut auf. Und reißt diesmal nicht alles wieder ein.
Review von Dennis RiegerEin sorgenvoller Herr warnt, unterlegt von geschmackvollen Drums und Sirenengeheul, die "werten Hörer" vor den "lautstarken Rhythmen", welche "unsere Jugend begeistern". Da ist "die Entfesselung der sexuellen Triebe" nicht mehr weit – und somit "die Voraussetzung der Schaffung eines Zustandes der Anarchie" gegeben.
Das unterhaltsame Intro – das laut Falko Luniak alias Morlockk Dilemma ebenso wie zwei Interludes und das Outro seiner neuen LP einer alten Kassette entnommen wurde, die vor einigen Jahrzehnten unter besorgten Priestern die Runde machte – legt die Vermutung nahe, dass es diesmal lyrisch noch wüster zugeht als in der Vergangenheit. Doch alle nicht battlerapaffinen Freunde des gepflegten Sprachgesangs können aufatmen: Auf "Am Grund" zeigt sich des Rapfeuilletons liebstes Zonenkind lyrisch so heterogen wie nie zuvor.
Mehr Autobiografisches hielt Einzug in den Nachfolger des thematisch allzu repetitiven Herzbube-Albums. Im Interview mit Juse Ju betont Luniak zwar, dass er kein betont reifes "Coming-of-Age-Album" habe veröffentlichen wollen, sagt aber auch, dass er sich vor der Arbeit an "Am Grund" durchaus die Frage "Was ist bisher passiert?" gestellt habe. Man wünscht sich, diese Frage würde er sich häufiger stellen. Denn die drei besten Tracks des ohnehin fast durchweg starken Albums sind die zweifellos autobiografisch gefärbten "Oase", "Stich zu" und "Bruderkuss".
"Oase" wurde bereits im Juni 2022 veröffentlicht. Dennoch ist man froh, die gewohnt wortgewandte Ode an eine längst nicht mehr existente Videothek in der Grünauer Plattenbauwüste fast eineinhalb Jahre später auf "Am Grund" wiederzuhören. Hier verschwindet die Kunstfigur Morlockk Dilemma zum ersten und zum Glück nicht letzten Mal auf der LP hinter dem Menschen Falko Luniak.
Auch "Stich zu" mit seinen sowohl wehmütigen als auch zündelnden Wortkaskaden in Erinnerung an eine Jugendliebe überzeugt. Da verzeiht man Morlockk auch die ein oder andere unnötig misogyne Line. Lernfähig scheint er aber trotzdem zu sein: Der Songtitel wird nicht etwa – wie man es anhand früherer Tracks erwartet hätte – von Morlockk selbst imperativisch verwandt, sondern von der Verflossenen selbst. Dass unser Herzbube nun zum "Posterboy jeder feministischen Zeitschrift" mutiert, wie er an anderer Stelle verkündet, darf dennoch bezweifelt werden. Aber das lassen wir Alice Schwarzer entscheiden. Wobei ... Lieber nicht!
Trinktracks sind zwar in der Diskografie Morlockks nichts Neues, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Alkoholismus gab es allerdings bis dato nicht. "Bruderkuss", neben "Oase" stärkster Track des Albums, holt das nach. Im sehenswerten Video des Songs erkennt der findige Herzbubenkenner einen alten Bekannten Morlockks in animierter Form am Tresen wieder. Ein Diss? Ein aufmunternder Gruß? Das bleibt unklar – und zeigt die neue Ambivalenz im musikalischen Kosmos Luniaks.
Auch die klassischen Battleraptracks fehlen nicht. Deren Lyrics sind – wie etwa auf "Bondbösewicht" – so gewohnt überdreht, dass man Morlockk glatt widersprechen muss bei der Selbstbeschreibung seiner Musik als "problematischer, soziopathischer Humbug". Trotzdem: Man ist froh, dass der Anteil der selbstbeweihräucherungsreichen Tracks, auf denen die Nasen allzu häufig in weißes Pulver getunkt und die Mütter der Hörerinnen und Hörer inflationär beglückt werden, abgenommen hat. Der eiserne Besen kehrt noch, aber dezenter. Wem das immer noch zu doll ist, kann immer noch berufsjugendliche Stuttgarter Sprachgesangsverwalter aus der Haushaltswarenwerbung hören.
Musste Luniak in der Vergangenheit mitunter noch mit Hinterhofheroen vorliebnehmen, gibt sich auf seinen Tapes inzwischen die vorderste Rapreihe hiesiger Breitengrade die Klinke in die Hand. Auf "Letzte Pirouette" gibt sich Morlockk zusammen mit K.I.Z.-Nico dem leichten Leben hin, während er später Samy Deluxe eine "Triggerwarnung" aussprechen lässt. Da sage noch mal einer, Grünauer Plattenbaukinder seien immun gegen den gesellschaftlichen Aufstieg!
Dass der Song mit dem Deluxeschen Beitrag, wie Morlockk den besorgten Gelegenheitshörer zu beruhigen versucht, nicht im Radio zu hören sein wird, darf indes trotz seiner expliziten Zeilen angezweifelt werden: Zu eingängig ist der Beat und zu gut der Flow des ungleichen Paares, als dass es der Track nicht zumindest in die Jugendkanäle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks schaffen sollte. Notfalls eben mit Triggerwarnung.
Apropos Beats: Die sind auf "Am Grund" durchweg exquisit. Ambientartige Loungesounds dominieren, ähnlich wie auf dem Vorgängeralbum, das Klangbild – diesmal aber in gut: Die Zeit der 80er-Schmuddelfilmchen entlehnten Beats ist zum Glück (mit Ausnahme des "Bondbösewichts") wieder passé. Man mag es nicht glauben, aber Streicher, ja, sogar eine Trompete und eine Flöte können ein Rapalbum bereichern. Und wenn Melodramatik gefragt ist, wird eben – wie in "Bruderkuss" – der Drum'n'Bass-Hammer ausgepackt. Hochwertiger wurde Sprechgesang in der auch rein musikalisch recht wacken Deutschraplandschaft seltener untermalt.
Auf vergangenen Releases zeigte sich mitunter Luniaks zweifelhafte Begabung, das zuvor Aufgebaute durch auch im Kontext eines Battlerapalbums indiskutable Zeilen zunichtezumachen. So geschah es etwa – aus dem Mund des damaligen Mitstreiters Hiob – im verschwörungsverliebten "Mutter der Huren" am Ende von "Apokalypse Jetzt". Diesmal wird das Aufgebaute nicht wieder eingerissen.
Einzig und allein "Katastrophenalarm" irritiert mit seiner impliziten Aufforderung, doch mal die Nachrichten zu ignorieren. Und dann? Wird die Welt dadurch eine bessere? Angestrengte Sozialkritik sollte Luniak lieber meiden. Abseits der genannten Ausnahme tut er das auf dem aktuellen Output glücklicherweise auch.
Mit "Am Grund" legt Falko Luniak sein lyrisch abwechslungsreichstes Album vor – und sein bisher bestes. Die autobiografisch gefärbte Trias aus "Oase", "Stich zu" und "Bruderkuss" zeigt, dass die "Raucherstimme für das Hinterhausgesindel" durchaus noch "Tinte auf dem Füller" für ein zukünftiges Opus Magnum haben könnte. Als Storyteller blüht der Grünauer Herzbube auf. Wir warten gespannt auf mehr Geschichten aus der Plattenbauwüste.
16 Kommentare mit 76 Antworten
Den Samy Track zu lobhudeln schreckt mich schon wieder ab.
Der ist der mit großem Abstand schlechteste. Album insgesamt mMn eine Großtat. Alle anderen Songs sind so stimmig, abwechselungsreich, musikalisch
Ok. Ich vertrau dir da. Aber warum checkst du das und der Rezensent nicht?
weil Musikrezeption subjektiv ist?
Das ist die dritte Review von Dennis Rieger, seineszeichens wohl der neue alte ynk. Von daher sei ihm der jugendliche Leichtsinn verziehen, der ihn in Katastrophenalarm angestrengte Sozialkritik erkennen lässt oder in Triggerwarnung kein sterbenslangweiligen Representer.
... oder ihm auch beim schreiben im Weg steht. Relativ grausig zu lesende Rezeption jedenfalls, dass wird in Zukunft aber bestimmt auch besser.
krass gute beats, dieser loop bei pirouette wow. der dude zeigt halt wie man in würde ü40 rap macht. kenn sonst keinen, alle wack ohne ende.
Maßstäbe von Musikjournalisten sind weird manchmal: Ins absurde gesteigerte Gewaltdarstellungen, sind kein Problem, aber wenn auf einem Album wie Apokalypse jetzt Gesellschaftskritik genauso überdreht wird, triggert das die innere Bertelsmann-Stiftung.
Wie schon an anderer Stelle geschrieben, ist das Album eine absolute Überraschung. Hier lügt die Kritik nicht, Morlockk ist echt so nahbar wie eigentlich noch nie, packt ein paar neue Vortragsweisen und Flows aus und liefert sonst die gewohnte Qualität.
Es ist nicht mehr der achzigste Aufguss seiner eigenen Comicfigur, sondern klingt wirklich wie Geschichten, die ihm so passiert sein könnten in Grünau.
Rap-Album des Jahres Anwärter für mich.
Was für ein Dreck.
Mir gefällts auch. Ein Dilemma-Album, das nicht vom Artwork über die Skits (Wo zur Hölle hat er denn diesen grandiosen bullshit schon wieder ausgegraben? ) zu Beats und Texten durchgehend hochwertig und stimmig ist, wird wohl eh nicht mehr erscheinen. Und mit den Einlassungen zu seiner (echten) Vergangenheit hat dieses hier auch jeden Fall auch ein inhaltliches Alleinstellungsmerkmal.
Die Gastauftritte mag ich tatsächlich auch. Zumindest im Fall von Samy, den ich eigentlich immer unerträglich finde (und dessen Part für sich auch hier schon recht bullshitlastig ist), durchaus überraschend. Aber während mich Morlockks Stimme nie gestört hat bzw. ich sie umgekehrt sogar als Stärke wahrgenommen habe, finde ich seinen Endreim-Beton-Flow mittlerweile auf Dauer irgendwie wirklich im negativen Sinne anstrengend und freue mich über die Abwechslung. Hiob hätte natürlich erst recht gut reingepasst, klar. Dass seine Sachen auch nicht mehr über den einst gemeinsamen Shop vertrieben werden, lässt mich ein bisschen befürchten, dass da schon mehr hintersteckt, als "(gerade) kein Bock zu rappen". Fingers crossed, dass nicht natürlich, fänd ich schon sehr schade, wenn man dieses Gespann nicht mehr zu hören kriegt.
Ach so: Insgesamt starkes Album, bei mir aber auch eher 4 als 5 Sterne, bauchgefühlsmäßig.
"Wo zur Hölle hat er denn diesen grandiosen bullshit schon wieder ausgegraben?"
Eine Kassette, die unter Priestern die Runde machte.
Das seine Sachen nicht im Mofo-Airlines-Shop zu kaufen sind heißt denke ich nix, da fehlen ja auch jede Menge Werke von Morlockk aber vor allem von Morlockko. Glaube auch, dass der Shop jetzt von einem Dienstleister betrieben wird.
Die Quelle ist ja nicht minder grandios Wer nimmt sowas auf? Wer unter den Priestern ist der Whistleblower? Wie kommt MD an die Aufnahme?
Zu der Sache mit Hiob: Bzgl meines Shoparguments magst du Recht haben, aber in der Wirkung scheint meine Befürchtung zu stimmen. Sofern das hier kein Fake oder bewusster Joke ist, was ich aber nicht glaube:
https://www.reddit.com/r/GermanRap/comment…
Morlockk hat vor ein paar Tagen in einer Instagram Story seine künstlerische Zusammenarbeit mit Hiob für beendet erklärt. Die scheinen sich wohl "entfremdet" zu haben und Morlockk war sich auch nicht sicher, ob Hiob in Zukunft überhaupt nochmal was releasen wird, schnüff.
Das mit Morlockks Flow verstehe ich sehr gut, allerdings hat der mich seit Jahren nicht mehr so wenig gestört wie auf dieser LP. Er bringt durchaus ein paar Variationen rein (Audienz) und klingt witzigerweise sogar manchmal ziemlich nach Hiob .
Bin nach wie vor milde begeistert und behaupte, dass da sonst dieses Jahr nichts mehr rankommen wird (außer den Kamikazes, aber den Vergleich finde ich unpassend).
Hm, davon hatte ich nix mitbekommen. Schade natürlich, aber ihre gemeinsamen Werke bleiben ja erhalten. Gibt es sonst Lebenszeichen von Hiob?
Neeeeein
Bestes Tag-Team im Deutschrap mit Sportler99 & John Borno, die sich auch entfremdet haben
@Caps:
War im Rahmen einer As me anything Fragerunde. Er wurde direkt drauf angesprochen.
Von Hiob hab ich seit 2020 nix mehr gehört. Ich glaube aus der Zeit stammen die letzten Features und Social media Aktivitäten.
Manchmal frage ich mich, ob die Rezensenten auf laut.de alles nur noch Generation-Z-Praktikanten sind oder einfach keinerlei Szene-Hintergrund haben, denn sonst wären sie nicht ansatzweise so kritisch mit einigen überzogenen Zeilen Dilemmas (nennt man in der Literatur u.a. übrigens Hyperbel), die in diesem Subgenre von Rap Gang und Gebe sind, seit den frühen 90ern schon.
Dilemmas Einfluss liegt halt ganz offensichtlich in obskurem 90er und 2000er US-Rap - Vom Wu-Tang-Clan über Ill Bill (hört man vor allem in seinen frühen Werken am Flow) und Necro (inszenatorisch und muskalisch).