laut.de-Kritik
Der Mann steht auf dem Höhepunkt seiner Karriere!
Review von Rainer Henze'ORRISSEY'? Was ist denn hier los? Was machen die mit dem 'M'? Bislang lief ja alles verdächtig prächtig. Zweitausendfünfhundertvierundzwanzig Kilometer waren wir gefahren, in den südspanischen Badeort Benicàssim, zum besten Festival der Welt, um mit lieben Menschen bei fantastischem Wetter vier Tage lang zu rocken, zu tanzen, die Nächte durchzufeiern und vor allem: um ihn zu sehen.
Die Bühne ist bereitet, sein Name in Lichtern. Ich: nur wenige Meter entfernt. Nicht wie zuletzt, vor eintausenddreihundertsiebenundfünfzig Tagen in der bestuhlten Wembley Arena in der er, David Bowie supportend, nicht mehr war als ein winziger Punkt am anderen Ende der Halle. Aber die Sache mit dem 'M' beunruhigt mich. Ich neige ja zu Katastrophenphantasien. Er könnte absagen. Ich könnte krank werden. Doch jetzt kann gar nichts mehr passieren. Die Bühne ist aufgebaut. Ich sehe sie, ich stehe direkt davor. Nur die freundlichen Bühnentechniker schauen eigenartig und: bauen das 'M' ab.
Sekunden später stehe ich im Pressezelt, versuche den Text auf den Bildschirmen zu entziffern. "Morrissey" steht da. Und irgendetwas von "Aeroplano". Mir wird verschwommen vor Augen. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, ob es wirklich technische Probleme mit dem Privatjet gab oder ob Herr M. spontan keine Lust mehr verspürte, in Riechweite von Chorizos und Hamburgesas zu singen.
Nun, knappe zehn Monate später, heißt es: Selbstbeherrschung beweisen und DVD schauen. "Who Put The 'M' In Manchester?" Ausgerechnet. Morrisseys Geburtstagskonzert vom 22. Mai 2004, zurück im hassgeliebten Heimatstädtchen. Es beginnt mit einem kurzen Fan-Interview. Aus San Diego sei er angereist, lässt ein nicht mehr ganz junger Mozza-Verehrer wissen. Kalifornien. Das sind locker achteinhalbtausend Kilometer. Ich bin unwürdig.
Auftakt: Die Bühne, die Band, die Buchstaben. Soweit bekannt. Und dann er: "First Of The Gang To Die". Selbst mittels Silberscheibe, abgespielt auf eher armseligem Equipment mit lächerlichem Bildschirm und mäßigem Sound wird eines doch überdeutlich: Morrissey ist auf dem Zenit seiner Karriere. Ein wunderbarer Crooner, die wahrscheinlich größte lebende Diva. Die ganz großen Gesten kommen locker aus der Hüfte. Er sieht fantastisch aus. Er berührt die Menschen. Und die Stimme - muss ich noch etwas zur Stimme sagen?
Eine glänzend ruhige Bildregie führt gefühlvoll durch einen eindrucksvollen Konzertabend aus aktuellen Songs, Solo- und vor allem: Smiths-Klassikern! Das gab es lange, sehr lange nicht mehr. "Don't forget the songs that made you cry. And the songs that saved your life. Yes, you're older now. And you're a clever swine. But they were the only ones who ever stood by you." Spätestens hier liegt ein kümmerliches Häufchen Musikredakteur schluchzend am Boden und weint in seinen DVD-Player. Unglaublich. Schon bei "Everyday Is Like Sunday" war eine Träne zu verdrücken. Wie soll das bloß enden, kündigt die Tracklist doch mit "There Is A Light That Never Goes Out" den größten Smiths-Song aller Zeiten an.
Es gelingt dieser liebevoll zubereiteten DVD also wirklich, bewegende Eindrücke einer Morrissey-Show zu vermitteln. Mehr kann man nicht verlangen. Dazu gibt es noch Bonus-Aufnahmen vom Move-Festival, etwa eineinhalb Monate später, ebenfalls in Manchester, ebenfalls wunderbar. So hätte es werden können in Benicàssim, auf diesem heißen Festival. Stattdessen war es: das perfekte Popkonzert - die blütenweißeste, unschuldigste, reinste Projektionsfläche for all that could have been. Danke, Morrissey! Für das 'M'. Für alles.
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