laut.de-Kritik

Harter Realismus, rebellische Attitüde und zarte Poesie.

Review von

"The time I think most clearly, the time I drift away / is on the bus-ride that meanders up these valleys of green and grey / I get to think about what might have been and what may yet come true / and I get to pass a rainy mile thinking of you."

In den ersten Zeilen von "Green And Grey", der zeitlosen New Model Army-Hymne schlechthin, wartet Mastermind Justin Sullivan am Rande der britischen Kleinstadt auf den Bus. Sein Blick schweift über die grünen Wiesen, den wolkenverhangenen Himmel, und er denkt an die verlorenen Freunde. Natürlich regnet es.

Eigentlich regnet es immer, im Alternative-Folk der Schlammschlacht-erprobten New Model Army aus Bradford in West Yorkshire. Im Sound, in den Versen und zwischen den Zeilen. Kaum eine andere Band symbolisiert und vertont die Gegensätze im Leben der Arbeiter- und unteren Mittelschicht so intensiv und natürlich wie die 1980 gegründete Truppe, zwischen dem hoffnungsvollen, feuchten Grün der Natur und dem Grau des brutal-banalen Alltags, dem Grau des regengetränkten Nebels drüben auf dem Hügel.

Das begann auf ihrem "Vengeance"-Debüt, als der Monsterbass von Stuart Morrow die rohen Tracks dominierte. Es durchzog die mitreißenden Postpunk-Hymnen von "No Rest For The Wicked" und stach trotz des Wechsels ins Alternative Rock-Genre auf "The Ghost Of Cain" immer wieder hervor.

Auf "Thunder And Consolation", ihrem vierten Album, jedoch finden sie 1989 die perfekte Mitte aus hartem Realismus, rebellischer Attitüde und zarter Poesie, aus den stampfenden Drums des Proletariats, den rockigen Stadion-Riffs und dem melancholischem Folk. Mit anderen Worten: Sie finden den perfekten Blueprint, den Grund ihres gesamten Schaffens.

Das kongeniale Songwriter-Duo Sullivan und Heaton läuft bereits im Opener "I Love The World" zu Höchstform auf und setzt die Zeichen auf Sturm. Der Frontmann verdichtet seine Lyrics zu einem an Intensität kaum zu überbietenden Bild und treibt mit dem Refrain seinen arrogant-abfälligen Zynismus auf die Spitze, während Heatons Schlagzeugspiel an die gnadenlose, unaufhaltsame Power des Debüts erinnert.

"The roll of distant thunder breaks, the afternoon of silence wakes / They hurry through from Petergate as if they know this dance / In fury blind, I drive at night across the moors, the open roads beneath the freezing starry skies, racing in some trance / These cities are illusions of some triumph over nature's laws ..."

Der Donner, die Wut, der Regen, die Moore, die Straße und Mutter Erde: Es braucht vielleicht nur diese ersten Zeilen, um New Model Army zu verstehen. Oder die Energie der folgenden Stücke. Während "Stupid Questions" fast rockig an großartige Hymnen wie "Poison Street" oder "51State" vom Vorgänger anschließt, gehört "225" musikalisch und textlich zum Besten, das die Army jemals veröffentlicht hat.

Heatons Hochgeschwindigkeit-Beat, die erhabene Stimme Stullivans und die dreckigen, förmlich über den Beat fliegenden Gitarrenriffs drücken die Botschaft unaufhaltsam zwischen die Hörner: "Both you and I, we never asked for any of this."

Das Zwischen-den-Stühlen-Sitzen zwischen Stadt, Land und Fluss, der ewige Rio Reiser-Refrain "Wir sind zwei von Millionen, wir müssen hier raus", und doch gibt es kein Entkommen und, frei nach Adorno, kein richtiges Leben im falschen.

Das folgende, an die Rohheit des Debüts erinnernde "Inheritance" schlägt in die gleiche Kerbe. "These tracks stretch out before me - the ones you left behind / What I want and what I feel - it's yours, yours, not mine." Das Erbe bestimmt das ganze Leben, und es wird noch schlimmer.

Im anfangs erwähnten "Green And Grey" kommt die Klaustrophobie der Kleinstadt durch die Hintertür. Zuerst webt sich neben reinigenden Gewitter feinster Folkrock ums geschundene Gemüt. Sänger Sullivan in der Rolle des ewigen Verlierers wütet gegen die Enge und Spießigkeit.

Eine ganz bittere Wendung nimmt der Song jedoch, als man merkt, dass er, der doch immer Ausbrechen wollte, genau jene anklagt, die es ungerechterweise geschafft haben und gegangen sind, während er selbst wieder nur auf den Bus wartet. "Do you owe so much less to these rain swept hills than you owe to your good self?" Neid, Selbstmitleid, Jammerei: In Verzweiflung und Selbsthass wirft man schnell alle Moral und Freundschaft über Bord.

Das Grau drängt unaufhaltsam nach vorne, scheint die Lebensfreude komplett zu übermannen. Zeilen wie "In the cities of the far north the skies are cold and clear / The loneliness is aching" ("Family Life") oder "We drive in silence beneath the grey dawning skies / Past the cooling towers where the white clouds slowly rise / I watch the world through motionless eyes / Nothing touches / nothing ever touches" ("Nothing Touches") nehmen einen fast jegliche Hoffnung. Fast.

New Model Army wären nur ein desillusionierter Liedermacher-Haufen, wandelten sie das Trostlose auf ihren Alben nicht immer wieder in Wut und kämpferische Attitüde um. Bereits auf dem unaufhaltsam nach vorne preschenden "The Ballad Of Bodmin Pill" scharen sie die verlorenen Seelenverwandten und Außenseiter um sich: "We are lost we are freaks, we are crippled, we are weak." Die "Family" formiert sich und schreitet nun endlich geschlossen und fröhlich in den Untergang.

"We follow the tail lights out of the city / moving in a river of red / as the colors fade away from the dusky sunset / we roll for the darkness ahead. We are old, we are young, we are in this together / vagabonds and children, prisoners forever / with pulses a-raging and eyes full of wonder / kicking out behind us again."

Wer schon einmal gesehen hat, wie schwarzgewandete Gestalten auf den Schultern anderer schwarzgewandeter Gestalten hocken und versuchen, mit ihren Händen die Energie der Musik zu greifen und in sich aufzunehmen, der ahnt, welche Kraft von dieser eingeschworenen Gemeinschaft und von der Musik New Model Armys ausgeht.

Getrieben vom Violinenspiel Ed Johnsons explodiert in "Vagabonds" alle Hoffnung und wird zum prägendsten Folkrock-Track aller Zeiten. Egal, wie beschissen das Leben ist, wir haben uns. Da finden zum Schluss selbst die durchtriebenen "White Coats" keine Mittel mehr. Wir wissen, dass Mutter Erde auf unseren Gräbern tanzen wird, zurecht, und wir freuen uns darauf. Wie hieß es noch am Anfang in "I Love The World"? "These cities are illusions of some triumph over nature's laws ..."

New Model Army waren schon immer ein Versprechen, dass es irgendwann besser wird. Dass die Vagabunden ihre Welt finden werden, dass das Gute siegen wird, auch wenn jeder weiß, dass man immer scheitern muss. "Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird." (Ton Steine Scherben) Wozu sonst ist Musik auch da, als Geschichten zu erzählen, Hoffnung und Kraft zu geben? "Is it true that the world has always got to be something / that seems to happen somewhere else?"

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. I Love The World
  2. 2. Stupid Questions
  3. 3. 225
  4. 4. Inheritance
  5. 5. Green And Grey
  6. 6. The Ballad Of Bodmin Pill
  7. 7. Family
  8. 8. Family Life
  9. 9. Vagabonds
  10. 10. 125 Mph
  11. 11. Archway Towers
  12. 12. The Charge
  13. 13. Chinese Whispers
  14. 14. Nothing Touches
  15. 15. White Coats

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5 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 10 Jahren

    Schöner Text. Ich habe die NMA erst spät entdeckt, mein persönlicher Favorit ist immer "No Rest For The Wicked" gewesen. Vielleicht aber auch nur, weil es meine erste Platte von ihnen war.

    • Vor 10 Jahren

      Danke, meiner auch, also nach der einmonatlichen Beschäftigung mit dem Schaffen der Band. Thunder war halt meine erste CD, mein erstes Konzert und ist musikhistorisch halt das NMA-Nonplusultra.

  • Vor 10 Jahren

    Man hätte wohl noch erwähnen müssen, dass sich die Kritik auf die 15-Song-Fassung des Albums bezieht, die ursprünglich auf CD erschienen ist. Eigentlich hat die Platte nur zehn Songs, also auch kein "White Coats".

  • Vor 10 Jahren

    Ein Klassiker aus meiner Jugend. Wenn ich ehrlich bin hat NMA dieses Level für mich später nicht mehr erreicht obwohl (mit Höhen und Tiefen) noch super CDs veröffentlicht hat. Between Dog and Wolf war nicht mein Fall, ich bevorzugen eher rockige Töne. Egal, geile Band mit Tiefgang!

  • Vor 10 Jahren

    Danke, eines der wichtigsten Alben der 80er endlich besprochen. Green and Grey ist immer wieder gut, auch live nach wie vor eine Wucht.

  • Vor 10 Jahren

    Gehört definitiv zum Soundtrack of my life. Auch in meinen Augen der Höhepunkt der Schaffenskraft von NMA. Späteres reichte da nicht mehr ran. Eine Band die einfach ihren Weg ging und noch geht. Danke für die Rezi!