"Fast Weltweit - Wie die Hamburger Schule in Ostwestfalen erfunden wurde" erzählt von ein paar Indie-Kids, die wie in einem Coming-Of-Age-Film zueinander finden und später Hamburg erobern.
Bad Salzuflen (rnk) - Bernd Begemann, Bernadette La Hengst, Jochen Distelmeyer und Frank Spilker von Die Sterne waren letztes Jahr die Hauptfiguren in einem Social Media Streit, ausgelöst durch eine umstrittene NDR-Doku über die Hamburger Schule. Eine Musikrichtung, die Deutschland Anfang der Neunziger prägen sollte und eine Nische abseits von mackerigen Deutschrock wie Bap schuf. Hamburg, das Tor zur Welt und seiner großartigen musikalischen Historie natürlich glamouröser als Ostwestfalen.
Warum also schreibt Christof Dörr, ehemaliger Intro-Schreiber und als Hesse mit kaum Berührungspunkten zur westfälischen Provinz, über einen Kurort, den keiner junger Mensch freiwillig besucht?"Fast Weltweit - Wie die Hamburger Schule in Ostwestfalen erfunden wurde", spoilert schon im Buchtitel die Bedeutung des Ortes Bad Salzuflen, in dessen Wikipedia-Artikel das "Fast Weltweit"-Label nur eine Randnotiz erhält.
Die deutsche Musik ist tot
Es handelt sich dabei wohl um einen Ort mit alten, griesgrämigen Menschen und Verachtung von subversiver Jugendkultur, oder wie Bernd Begemann in "Deutsche Hymnen ohne Refrain" sang: "Unsere Stadt ist weder groß noch klein / Wir Haben ein Kino, ein paar Banken / Ein paar Eisenbahnschranken / So gemütlich, so gemein." Auch heute muss man da nicht unbedingt hin, genau so wenig wie nach Siegen, Wissen oder Herborn.
Die Fast Weltweit-Crew schaffte immerhin das, was so ähnlich auch in Seattle gelang: Aus einem Ort, der stets von coolen oder großen Bands gemieden wurde, die Keimzelle für eine der immer noch interessantesten Epochen in der deutschen Indie-Musik zu starten. Immerhin findet man in Provinzen schnell Leidensgenossen und Gleichgesinnte. Die Lyrik der Band Jetzt! spiegelt die bedrückende Leere der deutschen Musik-Szene zwischen Grönemeyer, Westernhagen und Schlager. "Die deutsche Musik ist tot, mausetot tot ey", so fasst Ralf Summer von Jetzt! die bleiernen Helmut-Kohl-Jahre zusammen.
Porträt der Achtziger Jahre
"Fast Weltweit" ist auch ein interessantes Porträt der bundesrepublikanischen Provinz in den Achtziger Jahre. Es zeigt ein Leben, in dem man nur mit dem Wunsch, dass es doch noch besser wird, überlebt und aus der beschissenen Situation das Beste heraus holt. Eine krasse Gangsta-Story, wie man sie bei Rappern liest, ist die Entstehung des Fast Weltweits-Labels natürlich nicht.
Die Indie-Kids kommen alle aus einer sicheren Mittelschicht, die Eltern haben eine Arzt-Praxis oder besitzen ein kleines Landgut. Auf dem Hof der Familie Werner entsteht ein Treff für ein Grüppchen von jungen Menschen, die nicht auf NDW oder Radio-Pop abfahren. Wenn schon keiner ein Narrativ über ein ödes Kaff hat, muss eben eines in Frank Werners Garage - Ein Aufnahmeraum und Begegnungsort für die Handvoll Indie-Kids - entstehen.
Bernadette La Hengst sagt über den "Überpapa" von Fast Weltweit, dass sie ohne ihn wahrscheinlich gar keine Möglichkeit gehabt hatte, ernsthaft einen musikalischen Weg einzuschlagen. Als Vorbild für Fast Weltweit dient das englische Indie-Label Rough Trade, das mit ebenfalls begrenzten Mitteln große Künstler wie The Smiths hervor bringt.
"Fast Weltweit" liest sich jedenfalls trotz wie ein Coming-Of-Age-Roman einer Indie-Achtziger-Jahre-Jugend, und in den vielen Fotos sieht man junge Menschen, die noch leuchtend auf alles blicken und eine fast kindliche Unschuld ausstrahlen. Positiv ist anzumerken, dass die Grether Schwestern, anders als in der NDR-Doku, ein Kapitel bekommen, in dem ihre wichtige journalistische Arbeit für Fast Weltweit, aber auch die Hamburger Schule gewürdigt wird.
Auch das Thema "Jungs-Clique" lässt Dörr nicht weg. Die Außenseiter aus Bad Salzuflen bleiben in erster Linie eine Jungs-Gang, aber bieten immerhin ein Möglichkeit für Bernadette La Hengst, außerhalb der damaligen, weiblichen Stereotype etwas aufzubauen. Hengst heißt sie übrigens wirklich mit Familiennamen, den respekteinflößenden Zusatz "La" verdient sie sich mit ihrem Selbstbewusstsein auf jeden Fall.
Stand By Me
Dörr behält Recht, wenn er im Vorwort die Story der Clique wie in einen Hollywood-Film einordnet. Irgendwie schwingt da wirklich etwas Stand By Me-Abenteuer-Stimmung in den Erzählungen aus der ostwestfälischen Idylle mit. Hinter der spießbürgerlichen Fassade brodelt etwas, aber es geht auch viel um Freundschaften, aber auch beginnende Verwerfungen. In diesem Jahr stehen übrigens in Bad Salzuflen folgende Event-Highlights an: Die Kastelruther Spatzen Ende September und Fledermausführungen im Sommer. Vielleicht möchte doch jemand wieder seine Garage für einen Haufen verlorener Kids öffnen?
Christof Dörr - "Fast Weltweit"*
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