Ob mit Band oder solo, politisches Engagement und Kunst gehen beim Frontmann von System Of A Down Hand in Hand. Auch in seinen Memoiren.

Los Angeles (gbi) - Er sei in erster Linie Aktivist und erst in zweiter Künstler, sagt Serj Tankian gerne über sich selbst. Seine Autobiografie "Down With The System" (Headline, 352 Seiten, 21 Euro, noch nicht in deutscher Übersetzung erhältlich) unterstreicht das. Das politische und soziale Engagement nimmt gefühlt den prominenteren Platz ein als all die Proben, Alben, Touren und Welterfolge, die der 56-Jährige als Sänger von System Of A Down und als Solokünstler vorweisen kann.

Doch Entwarnung für alle Musikfans: Auch die komplexen Dynamiken innerhalb von SOAD kommen nicht zu kurz.

Wider das Vergessen

Tankian sieht das Buch als eine Chance, mehr Menschen für seine Sache zu gewinnen: den Kampf für Gerechtigkeit, für Frieden, vor allem aber für die internationale Anerkennung des Genozids an der armenischen Bevölkerung, den die türkischen Machthaber zu Beginn des 20. Jahrhunderts im damaligen Osmanischen Reich verübten. Die Zahl der Todesopfer wird auf bis zu 1,5 Millionen geschätzt, zahllose weitere Menschen wurden ins Ausland deportiert und so ihrer Wurzeln beraubt. Die Aufarbeitung der Geschehnisse ist bis heute dürftig, allem voran wegen des Widerstands aus Ankara.

Wie das Trauma von Generation zu Generation weitergegeben wird, zeigt der Sänger anhand seines Familienstammbaums: "To understand anything about me, my life, or even System Of A Down, you need to understand the Armenian Genocide", erklärt er jenen, die sich eine gewöhnliche Rockstar-Biografie erhoffen.

Viel Platz gewährt Tankian der Vita seines Großvaters. Stepan hieß der Junge, der 1909 in Efkere geboren wurde. Ein kleines Dorf, das auf Gebiet der heutigen Türkei liege, aber verwaist und vergessen sei. "It's a place that no longer exists on modern maps."

Der kleine Stepan wurde auf einen der berüchtigten Todesmärsche durch die syrische Wüste geschickt. In einer Gruppe von rund tausend Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder, scheuchte man ihn gut ein Jahr lang weiter und weiter, wobei Gewalt, Hunger und Leid allgegenwärtig gewesen seien. Die Hälfte der Armenier:innen sei gestorben, ehe die Gruppe ihr Ziel erreicht habe: "open air concentration camps" im heutigen Syrien, wie es Tankian nennt.

Der Junge überlebte all den Horror, schlug sich durch und wurde am Ende über 90 Jahre alt. Das Erlebte lastete aber zeitlebens schwer auf ihm, was direkt zu Serj Tankian führt: Er hat seinem Großvater geschworen, nie aufzuhören, dessen Geschichte zu erzählen. "I feel a duty – and an honor – to continue fighting for recognition of the Genocide that my people lived through", schreibt er. Nicht aufgearbeitetes Unrecht bereite den Boden für neues Unrecht. So habe auch Hitler Bedenken vor Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 mit der Frage gekontert: Wer spreche denn noch von der Vernichtung der Armenier:innen?

Boom!

Serj Tankian kommt 1967 in der libanesischen Hauptstadt Beirut zur Welt. Als wenige Jahre später der Bürgerkrieg ausbricht, durchlebt auch er Todesängste: Wer einmal Bomben habe explodieren hören, wer sich der Willkür ausgesetzt sehe, die über Leben und Tod entscheide, sehe militärische Gewalt immer mit anderen Augen. "Whenever I hear about some village in Myanmar or Artaskh or Afhganistan being bombed, I can feel that terror somewhere deep in my core plucked like a tuning fork."

Im Sommer 1975 flieht die Familie nach Los Angeles. Eine neue Welt, dank der armenischen Diaspora aber auch vertraut. Während des Heranwachsens in Hollywood entdeckt Serj den Aktivisten in sich, tritt einer politischen armenischen Jugendorganisation bei, verteilt Flyer, besucht Treffen. Musik dagegen interessiert ihn da noch kaum, seine Gitarre verstaubt daheim. Erst, als er bei einem Konzertabend sieht, wie sich in den Liedern politische Inhalte und Musik miteinander verbinden, macht es klick.

Tankian gegen den Rest der Band

Tankian zeichnet von sich selbst das Bild eines kreativen Freigeistes, der stets seinem moralischen Kompass folgt und diesbezüglich zu keinerlei Kompromissen bereit ist. Als einen Künstler, der im Gegensatz zu seinen Kollegen bei System Of A Down nie vom Rockstar-Lifestyle geträumt hat. Der Riss in der Band ist Fans natürlich bereits bekannt: Auf der einen Seite die "other guys", die den Sänger regelrecht beknien müssen, live aufzutreten. Auf der anderen Seite Tankian, der über den Dingen schwebt und mit einem Bein immer schon raus ist.

Dass er SOAD, die mit ihrer ureigenen Mischung aus modernem Metal und armenischer Volksmusik die Welt im Sturm eroberten, für seine Zwecke nutzt, räumt Tankian an einer Stelle ungeniert ein: "Why shouldn't I?" Wo immer er dank der Banderfolge einen Hebel findet, nutzt er diesen. Etwa, wenn er im US-Parlament auf jüngere Abgeordnete einwirkt. Auch gefällt es ihm, dass sich so Türen in die höchsten Zirkel der armenischen Politik öffnen.

Die Band muss, je länger, desto mehr, hintanstehen. Das Buch zeigt, dass Tankian das letzte Mal bei den Aufnahmen zu "Toxicity", dem 2001 erschienen Durchbruchalbum, voll engagiert bei der Sache war.

Das strapaziöse Tourleben brennt ihn komplett aus. Bereits als 2002 "Steal This Album!" nachgeschoben wird, ist er bereit, das Handtuch zu werfen. Das Plattenlabel ist nicht willens, das von ihm geforderte kriegskritische Video zum Song "Boom!" drehen zu lassen. Dann steige er halt aus der Band aus, lässt Tankian ausrichten. Kein Bluff: "I was ready to walk over this." Die Band stärkt ihm den Rücken, am Ende lenkt das Label ein.

Unerwartet kühl

Die Beziehung zu seinen Mitmusikern schildert Tankian unerwartet kühl. Bassist Shavo Odadjian bleibt eine Nebenerwähnung, Drummer John Dolmayan, der auch sein Schwager ist, schätzt Tankian für die Loyalität, obwohl sie politisch in verfeindeten Lagern zuhause sind.

Am meisten Raum erhält zurecht die Daron Malakian. Ihn beschreibt Tankian als einen Vollblutmusiker, für den nichts anderes zähle. Gleichzeitig sei er ein Kontrollfreak, der im Studio die Zügel fest im Griff halte. Kooperation unerwünscht. Dass der Gitarrist mit den Jahren immer mehr Gesangslinien und Lyrics beisteuerte, habe ihn ehrlich gefreut, beteuert Tankian, doch sei nichts zurückgekommen. Im Gegenteil: Tankians eigener Input sei stetig minimiert worden, was ihn zunehmend frustriert habe. Bei den Aufnahmen zum Quasi-Doppelalbum "Mezmerize" und "Hypnotize" sei er nur noch physisch anwesend gewesen.

Mit zwei Sturköpfen misslang jeder Anlauf, nach 2005 ein neues Album aufzunehmen. Versuche gab es aber durchaus. Tankian beschreibt ein stundenlanges Bandtreffen, in dem er - vergeblich – "mehr Demokratie" im Songwriting-Prozess durchboxen wollte. Heißt: Mehr seiner Kompositionen sollten es aufs Album schaffen. Man kann sich bestens in Dolmayan einfühlen, der nach zermürbendem Hin und Her auf den Tisch gehauen habe: "Enough of this bullshit!" Malakian solle die Musik schreiben, Tankian die Texte. "I play the drums, he plays the bass. That's the way this band works." Aber, nope, so geht das eben nicht. Nicht mit jemandem wie Serj Tankian, der sich kopfüber in jede kreative Herausforderung stürzt, den aber kaum etwas so anödet wie "künstlerische Redundanz".

Trotz aller Differenzen lobt Tankian, dass die Musiker nie die Verbindung zwischen ihnen abreißen ließen. Ja, auch etwas Selbstkritik darf sein: "What I sometimes forget about Daron, Shavo and John is how much I genuinely like them." Und immer dann, wenn es um die armenische Sache gehe, stehe man ohnehin geeint.

Lukrative Zweckehe

Überraschend kommt, dass er seinen Bandkollegen schon nahelegte, mit einem neuen Sänger weiterzumachen. Er sei es leid, seine drei Gefährten zurückzuhalten. Als er eines Tages erfährt, dass die Band tatsächlich heimlich einen Kandidaten zum Jam eingeladen hatte, verletzt ihn das gleichwohl. Ganz so über allen Dingen schwebt er trotz Zen-Attitüde nicht.

Eine Band sei wie eine Ehe, heißt es, doch das lässt Tankian nicht unkommentiert stehen: "Bands start on whims and chance." Jemand kenne jemanden, der Bass spiele. Dann brauche man einen Drummer für den nächsten Gig. "Suddenly you find yourself married to people you never planned on spending the rest of your life with." In seinem Fall ist es eine Zweckehe. Immerhin eine sehr lukrative.

Die Lisa Simpson des Alternative Metal

Als wären Bandhistorie, Solokarriere und Geschichtsstunde nicht genug, bringt Tankian zahlreiche weitere interessante Gedanken und Themen unter. Er klagt Heucheleien der US-Regierung an, der türkischen sowieso, der Musikindustrie. Stellenweise wirkt er dabei wie die Lisa Simpson des Alternative Metal. Dank einer Prise Humor wird "Down With The System" zu einem komplexen, gleichwohl aber stringenten und vor allem vergnüglichen Lesestoff.

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Fotos

Serj Tankian und System Of A Down

Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger) Serj Tankian und System Of A Down,  | © laut.de (Fotograf: Lars Krüger)

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2 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 12 Tagen

    Warum kann ich den Buchtitel nicht lesen, ohne die "Down with the sickness"-Hook im Kopf zu haben?

  • Vor 12 Tagen

    Danke für den Artikel, heftige Story. Der moralische Kompass ist mir sehr wichtig und das lässt mich jegliches Leben und Lebensform, gleichermaßen würdigen. Begegne das Leben so wie du begegnet werden möchtest.
    Es gibt nicht vieles zutun im Leben, aber das gehört meiner Meinung nach mit dazu. Begegne das Leben so wie du begegnet werden möchtest und dann erkennt man in welcher Vollkatastrophe wir als Zivilisation stecken, obwohl wir im absoluten Überfluss leben. Angst und Gier sind keine natürlichen Zustand. Tatsächlich ist es die Zen Aura. Die Natur macht es vor.

    Das mit Egos in der Band, vor allem wenn der Zusammenschluss ungewollt entstanden ist, kann ich verstehen. Meiner Meinung nach erkennt man auch einen alten State of the Mind.

    • Vor 12 Tagen

      War zumindest n ganz okayer Versuch :)

    • Vor 10 Tagen

      Man kann ja zum Gendern stehen, wie man will. Mir ist es ehrlich gesagt egal, ob man es macht oder nicht.
      Einer Person wie Hitler allerdings das Wort Armenier:innen in den Mund zu legen entbehrt schon nicht einer gewissen,jedoch leider mit Sicherheit völlig ungewollten Komik.