laut.de-Kritik

Auf der Suche nach der passenden Lebenswelt.

Review von

Katharina Kollmann alias Nichtseattle ist auf der Suche nach ihrem Haus. Auf ihrem neuen Album geistert sie durch zahlreiche Lebenswelten, um letztendlich einen Lebensentwurf zu finden, der sich nicht widerspricht, in den sie hineinpasst. Auf dem Weg dahin untersucht sie politisches Versagen, mannigfaltige Liebesbeziehungen, gesellschaftlichen Wandel, Einsamkeit, Geschlechternormen und vieles mehr. "Haus" verkommt aber nie zu einer stumpfen Abarbeitung der Probleme, vielmehr besingt Kollmann individuelle, intime Erfahrungen, die am Ende immer Teil eines großen Ganzen werden. Weil die zahlreichen Themen für sie offensichtlich noch nicht genug Stoff für ein Album darstellen, stülpt sie dem Ganzen noch ein visualisierendes Konzept über, indem sie allen Songs einen bestimmten Ort zuweist, von Plattenbau über das Papierhaus zum Schloss. Spoiler: Ein Zuhause findet sie am Ende nicht.

Welcher Lebensentwurf für sie von Anfang an nicht die Lösung ist, stellt sie direkt mit den ersten Zeilen von "Beluga (Eigentumswohnung)" klar: "Hat er das gerad wirklich gesagt, hat er das gerad wirklich gesagt, gesagt? Der isst in Ruhe sein Quinoa, seine Beete, spricht von Yoga. Hört nicht auf, entspannt zu grinsen, der und seine Bio-Beluga-Linsen! Mir verschließt sich nicht nur der Magen: Jetzt soll ich noch was zum Konzept Liebe sagen! Und der liest so stolz Bücher von Frauen und wird nur an neuen Märchen mitbauen." Kollmann wirft sich in ein Dating-Szenario mit einem auf Effizienz getrimmten Selbstoptimierer, der versucht, sein Leben so perfekt und korrekt wie möglich in der besagten Eigentumswohnung zu verbringen. Es wird deutlich, dass ein simples Schöner-Größer-Schneller nicht das Haus ist, indem sie leben möchte. Im zweiten Vers öffnet sie die private Diagnose auch noch gesamtpolitisch, sie missbilligt die neoliberale Losung (Das regelt der Markt!) und besingt ihre viel zu teure "Zuhausestadt / Die viel zu viele leere Häuser hat."

Die Bewegung von privater Erzählung hin zu gesamtgesellschaftlichen Beobachtungen und Wünschen vollzieht Kollmann häufig, daher wird ihr ein gewisser, politischer Aktivismus nachgesagt. Das ist auch kein Wunder, schließlich trug ihr letztes Album den wenig subtilen Titel "Kommunistenlibido". Tatsächlich fixiert sich "Haus" aber mehr auf die persönliche Suche nach Identität, Zugehörigkeit und allgemein einem erfüllten Leben – dass diese Suche kein Ziel hat, begründet Kollmann dabei durchaus politisch. Ihre ostdeutsche Herkunft, die auf den vorherigen Alben noch eine größere Rolle gespielt hat, tritt derweil ein wenig in den Hintergrund.

Im Grunde lässt Kollmann aber keinen Stein auf dem anderen. Sie kommt von Kindheitserinnerungen in der "Treskowallee (Zelt)", über das Verlassen-werden und den daraus resultierenden Selbstzweifeln ("Schikane (Plattenbauwohnung Q59)"), die Ratschläge ihrer Mutter, nach einem traditionellen Rollenbild zu leben ("Mach hin und mach ein Kind und deinem Leben einen Sinn und halt es hoch, das Kinn!") zu Menschen, die das bürgerliche Leben für sich akzeptiert haben, und nun vermeintlich naiv und "heiterprofan" von "vollen Stränden" und "wohlverdienter Ruhe" sinnieren. Die Songs sind ausnahmslos extrem vielschichtig, entwickeln sich in ungeahnte Richtungen, und verhandeln immer gleichzeitig auch die eigene Suche nach dem potentiell richtigen Weg. Das mündet in Laufzeiten, die selten unter die fünf Minuten-Marke fallen, da Kollmann sich die nötige Zeit nimmt, alle Gedanken gründlich aufzudröseln.

Zum ersten Mal erhält Nichtseattle dabei auch Unterstützung von einer Band und dem Nachbarschaftschor, den sie leitet. Da Kollmann nicht mehr mit ihrer Gitarre alleine ist, finden sich auf "Haus" breitere Arrangements wieder, die sich irgendwo zwischen Indie-Rock und klassischerem Folk einordnen lassen. Die Konstellation ermöglicht den Songs auch eine kontinuierliche Steigerung, häufig setzt zum letzten Refrain noch der Chor mit harmonischen Backing-Vocals ein. Die Bewegung vom Individuellen zum Allgemeinen wird also auch musikalisch nachgefahren.

Der rohe Gesang von Kollmann ist für sich genommen aber schon unglaublich eindringlich und dynamisch, gerade wenn sie ihn für kurze Sprechpassagen unterbricht oder sogar komplett in ein poetry-slammiges Format abdriftet. Die Parallele zu Poetry-Slams und den darin häufig verhandelten Fragen nach Identität und Zugehörigkeit ist zwar im ersten Moment schnell gezogen, allerdings funktionieren Kollmanns Texte komplett ohne das bedeutungsschwangere Dahingerede, in das Poetry-Slams leider allzu oft verkommen. Vielmehr klingt es so, als würde sie einfach die Themen aufschreiben, die sie gerade um den Schlaf bringen, ohne den Anspruch, dass das Gesagte irgendwie tiefgründig klingen muss. Dadurch entstehen unfassbar authentische Texte, die komplex sind, einfach weil sie komplex sind, und nicht, weil sie als vermeintlich tiefgängig präsentiert werden.

Im letzten Song "Fleißig (Schloss)" schließt Kollmann dann den Kreis und entlarvt die Suche nach dem richtigen Lebensentwurf als Luftschloss: "Ich bin immer sooo fleißig. Und trotzdem: irgendwie reichts nicht". In einem Interview mit der TAZ brachte sie diese Erfahrung auf den Punkt, als sie ihr Unverständnis über den selbstoptimierenden Marktliberalen im ersten Track ergänzt mit: "Was ich aber natürlich unterschlage, ist, dass man es ja tatsächlich auch nicht richtig machen kann." Das Album möchte gar keine Antworten liefern, es fungiert vielmehr zur Dokumentation der eigenen, oft auch verzweifelten Sinnsuche und dem Aufzeigen politischer und gesellschaftlicher Notlagen.

Ganz am Ende der Platte kommt dann aber doch noch eine Hoffnung Kollmanns hervor, die Zeilen bilden gleichzeitig auch einen der wenigen Momente, in denen sie eine konkrete, politische Forderung äußert: "Das Letzte, was ich will, ist bloß mit den Augen rollen. Ich verstehe ja, warum wir alle groß sein wollen, doch ich weiß was, wir müssen das machen: alles einreißen und vor Trauer dann lachen!"

"Haus" ist definitiv keine Musik für eine breitere Masse. Die komplexen, oft sehr assoziativen Texte Kollmanns lassen sich zusammen mit dem ruhigen Gesang und der unaufgeregten, musikalischen Untermalung denkbar schlecht wegkonsumieren. Wer aber nach einem unprätentiösen, authentischen Projekt sucht, dessen inhaltliche Tiefe sich mit jedem Hören weiter ausbreitet, finden hier ein unfassbar gutes, zutiefst emotionales Album wieder – es ist kein Wunder, dass es von zahlreichen Kritiken bereits als Meisterwerk geadelt wurde.

Trackliste

  1. 1. Beluga (Eigentumswohnung)
  2. 2. Krumel Noch Da (Tagescafe)
  3. 3. Treskowallee (Zelt)
  4. 4. Unterstand (Schirmpilz)
  5. 5. Schikane (Plattenbauwohnung Q59)
  6. 6. In Deiner Strasse Baume (Altbauwohnung)
  7. 7. Frau Sein (Werkstatt)
  8. 8. Heiterprofan (Proberaum)
  9. 9. Haus Aus Papier (Papierhaus)
  10. 10. Keinen Kaffee (Türrahmen)
  11. 11. Attribute (Fahrgastunterstand)
  12. 12. Fleißig (Schloss)

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LAUT.DE-PORTRÄT Nichtseattle

Katharina Kollmann wird im Jahr 1985 in Ost-Berlin geboren und ist eine Singer-Songwriterin, die unter den Künstlernamen Lake Felix und Nichtseattle …

12 Kommentare mit 17 Antworten

  • Vor 6 Monaten

    Ob sie jetzt auf ihr Pseudonym „Nichtseattle“ von ganz alleine gekommen ist oder zuvor Tocotronic entdeckt hat, würde mich mal interessieren.
    Indiebands sind nicht gerade dafür bekannt, Bandnamen aus Songtiteln zu generieren. Also doch irgendwie einen Bezug zu Metal? Und wird Trump wieder Präservativ?

  • Vor 6 Monaten

    Dieser Kommentar wurde wegen eines Verstoßes gegen die Hausordnung durch einen laut.de-Moderator entfernt.

  • Vor 6 Monaten

    Ich kannte sie eigentlich von ihrem anderen Projekt "Lake Felix". Da spielt sie nur solo Bass (ohne Band) und singt englisch dazu. Wirklich ganz großartig! Weil ich mit deutscher Sprache in Songs ziemlich Probleme habe, dauerte es ewig bis ich mich getraut habe, "Kommunistenlibido" anzuhören - nicht dass der Zauber verfliegt... ;-)
    Aber hey, mittlerweile habe ich sie mehrmals live gesehen (englisch und deutsch & sogar mit Kaufhallenchor) und finde Frau Kollmann wirklich großartig: unprätentiös, authentisch und ich mag auch ihre Stimme und die sparsame Musikalität.
    Passt super zum aus-dem-Fenster-starren in der Berliner S-Bahn.