laut.de-Kritik
In Caves Giftschrank sind nur Köstlichkeiten.
Review von Franz MauererPreziosen oder Obskuritäten? Diese Frage stellt sich unausweichlich bei Raritäten-Kompilationen wie dem vorliegenden "B-Sides And Rarities (Part II)" von Nick Cave - und irgendwie auch von den Bad Seeds, die auf den Songs in unterschiedlichen Formationen zu hören sind. Die Tracks mit aussuchen durfte aber nur Caves gruseliger Schatten Warren Ellis. Wie der Name schon sagt, tauchen neben unveröffentlichten Liedern einige Stücke auf, die der geneigte Anbeter des Australiers in der ein oder anderen Form schon gehört hat, allesamt aus der Zeit 2006-2020. Für die Zeit davor gibt es die vom nach wie vor schmerzlich vermissten Mick Harvey kompilierte Erstsammlung.
Zu den hier auf Platte gebannten Stücken zählen einerseits B-Seiten und unveröffentlichte Songs, die es nicht auf reguläre Studioalben schafften, wobei damit vor allem "Ghosteen" und "Skeleton Tree" gemeint sind. Bei manchen ergibt sich der Mehrwert nicht zwingend aus dem Katalog, so ist das Cohen-Cover "Avalanche" im Vergleich zum Original-Cover kaum verändert. Ein Wahnsinnssong ist es aber trotzdem. Gemein ist fast allen Songs, dass sie wie die zur selben Zeit entstandenen Alben mit Anlauf in die Magengrube treten. Der verbitterte Sprechgesang "Steve McQueen" ist aus dem Film "One More Time With Feeling" bekannt. "Animal X" bietet Drama pur, eine Verbindung zwischen dem biblischen Cave von "No More Shall We Part" und den Synthies und Streichern der jüngeren Vergangenheit. Nicht nur ein Albumhöhepunkt, sondern einer der besten Songs im gesamten Kanon.
"Needle Boy" und "Life Per Se" zeigen, was passiert, wenn Ellis und Cave die anderen Seeds auf ihre Seite des Wahnsinns herüberziehen. Letztgenanntes ist einer der zahlreichen Abschiedssongs von seinem Sohn und in seiner Traurigkeit kaum zu ertragen. Das launigere "Vortex" überzeugt als Single, verblasst aber neben dem überragenden "Earthlings". Erwähnt sei noch der Akustik-Grinderman-Bastard "Accidents Will Happen".
Die zweite Art von Tracks auf dem Album wirkt auf den ersten Blick unspannender: das sind first takes bzw. Demo-Versionen, wie die ersten Aufnahmen von "First Skeleton Tree", "First Girl In Amber' und "First Bright Horses" sowie eine Live-Version von "Push The Sky Away (Live with The Melbourne Symphony Orchestra)". Das weniger ausorchestrierte "First Waiting For You" zeigt eindrücklich, warum diese Songs quantitativ weniger signifikant sind, aber nicht qualitativ: Diese enorm von Ellis beeinflussten Liedern basieren auf hervorragendem Songwriting, das in diesen Takes zur Geltung kommt. Sie fallen nicht karger aus, sondern besinnen sich mehr auf die Stärke der Grundmelodien.
Es überrascht und gibt dem langjährigem Cave-Fan eine fast schon obskure Sensation, wie deutlich man hier die Transformation des mittelalten Caves in sein von Ellis getragenes Spätwerk heraushört. "Boatman's Call" war ein Album für aussichtslos Depressive, aber die große Mehrzahl der hier versammelten Werke tut schlicht weh. Wo "Carnage" geschliffen war, ist "B-Sides & Rarities (Part 2)" roh, ohne grob wie Grinderman zu sein. Eine Facette vom Nick, die man so seit "Abattoir Blues" nicht mehr hörte.
Andere Musiker würden Nieren dafür opfern, Cavesche Fingerübungen wie "Fleeting Love" hinzukriegen. "B-Sides & Rarities (Part 2)" ist kein kohärentes Album, alleine schon, weil es eine Entwicklung nachzeichnet. Ein reines Fanwerk für Cave-Kundige ist es allerdings auch nicht, nicht im Geringsten. Ich würde es jungen Ersthörern von Cave sogar als Einstieg empfehlen, mit seiner skelettierten Ehrlichkeit. 27 hervorragende Songs ergeben halt ein Meisterwerk; wo der erste Teil mehr Wumms hatte, hat Part II Unmittelbarkeit. Näher kommt man dem Spätwerk Caves mit seinen immer penibleren Produktionen nirgendwo, als Sänger sowieso nicht.
3 Kommentare mit 9 Antworten
"...nur Caves gruseliger Schatten Warren Ellis."
Was auch immer das heißen soll. Ich sehe in ihm weder einen Schatten Caves noch kann ich jedwede Form von Grusel erkennen.
Das wird der Rezensent allein wissen. „Gruselig“ ist nach meinem Empfinden die Kategorisierung der Platte unter „Wave/Gothic“ (!).
Immer noch passender als „Pop“, oder?
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Stimmt, „Pop“ ist tatsächlich noch besser.
Hab mich noch nicht getraut. Ist das wieder so´ne Pulsaderaufschlitzmucke?
Pulsaderaufschlitzmucke wird von durch und durch oberflächliche Menschen verwendet, deren emotionaler Tiefgang so flach ist, wie der Wasserstand in einer ausgetrockneten Pfütze.
Er heißt John Lenon, dass sagt doch schon alles.
"oberflächliche Menschen"
Ich sehe, man versteht sich unter seines gleichen.
Unwahrscheinlich. Wenn du das hören würdest, wo bei mir Depression anfängt, würdest du schneller vor den Zug springen, als man Zug buchstabieren kann. Dagegen ist das von Nick Cave fröhliche Partymucke.
Mick Harvey wird schmerzlich vermisst? Diese, im Vergleich zur ersten Compilation deutlich schwächere Sammlung zeigt schmerzlich Warum…