laut.de-Kritik
Wie ein Traum zum Albtraum wurde.
Review von Giuliano BenassiDer Beginn der Geschichte dieses Albums klingt zu schön, um wahr zu sein. Während seines Studiums schlug sich der in Großbritannien und Paris aufgewachsene Nick Garrie 1968 als Straßenmusiker an der Côte d'Azur durch. Nicht ganz ungefährlich, denn er besaß neben der britischen auch die französische Staatsbürgerschaft und hätte dort eigentlich seinen zweijährigen Wehrdienst ableisten müssen.
Einem Produzenten gefiel seine Musik so gut, dass er ihn ins Studio lud. Paris war Garrie zu brenzlig, also flogen sie nach Brüssel, wo sie erste Stücke aufnahmen. Mittellos landete Garrie wenig später doch in der französischen Hauptstadt - bei seiner Mutter. Sie übernahm die horrenden Gebühren, um den französischen Pass und somit die Verpflichtung zum Wehrdienst loszuwerden. Noch wichtiger, sie verschaffte ihm über einen Bekannten eine Audienz bei Lucien Morisse, einem der Big Player im französischen Musikbusiness.
"Er war ein elender Mistkerl", erinnert sich Garrie 50 Jahre später. Er meinte: "Sie haben fünf Minuten, nicht mehr". Garrie trug eines der Lieder vor, die er an der Côte d'Azur geschrieben hatte. "Er zog einen Vertrag heraus und sagte: 'Unterschreiben Sie hier! Haben Sie noch mehr solcher Lieder auf Lager? Dann unterschreiben Sie!'"
"Es war der Beginn eines Traums. Nicht das Ende, der Beginn", so Garrie. Doch der weitere Verlauf war zu wahr, um schön zu sein. Um die Produktion kümmerte sich Eddie Vartan, einer der bekanntesten Songschreiber, Musiker und Produzenten des Landes. Er machte keinen Hehl daraus, dass er von Garrie nicht viel hielt, ebenso die Studiomusiker, die seine Stücke mit ausladenden Arrangements begleiten sollten. Schließlich platze Garrie der Kragen, Vartan solle sich zum Teufel scheren. Nach zwei Wochen waren die Sessions beendet.
Der Traum wurde zum Alptraum. Die ersten Exemplare waren fertig gepresst, die Veröffentlichung stand an, als sich Morisse das Leben nahm. Ohne den mächtigen Mann, der Garrie verpflichtet hatte, ließ ihn das Label fallen. Das Album kam erst gar nicht in den Handel, der Schrottpresse entkamen nur wenige Exemplare, eines davon blieb bei Garries Mutter. Er selbst zog einen Schlussstrich und lebte sein Leben als Lehrer, Familienvater und Musiker weiter. In den 80er-Jahren war er als Nick Hamilton in Spanien erfolgreich und eröffnete einige Konzerte für Leonard Cohen.
Den ursprünglichen Nachnamen packte er erst 2009 wieder aus. Nicht zufällig, denn "Stanislas" hatte im Laufe der Jahre einen erstaunlichen Kultstatus erhalten. Die wenigen Vinyl-Exemplare waren Gold wert. 2005 war eine Neuauflage auf CD erschienen, eine weitere 2009. Zum 50. Jubiläum nun auch eine inklusive Essay und Bonusmaterial.
Zu den Liebhabern des Albums gehörte der Schauspieler Philip Seymour Hoffman, der Garrie kontaktierte, um sich mit ihm darüber auszutauschen. Der erste CD-Release machte jüngere Musiker auf ihn aufmerksam, unter anderen Teenage Fanclub und BMX Bandits, die an Garries Comeback-Album "49 Arlington Gardens" (2009) arbeiteten. 2017 folgte "The Moon & The Village", nun beim Hamburger Label Tapete.
Ohne "Stanislas" wäre das wohl alles nicht möglich gewesen, dennoch bleibt Garries Verhältnis zu seinem ersten Album gespalten. Was wohl mit der schlechten Stimmung bei den Sessions und der späteren Behandlung durch sein Label zu tun hat. "Es war nicht das Album, das ich machen wollte", lautet ausgerechnet der Titel des Essays, der dieser Neuauflage beiliegt. Er sah sich als Singer/Songwriter im eigentlichen Sinne, seine Vorbilder waren neben Bob Dylan die klassischen französischsprachigen Chansonniers. Ein herrischer Produzent und 52 Studiomusiker, die ihrem Job nachgingen und ihn dabei kaum beachteten, waren nicht im seinem Sinne.
Zumal "Stanislas" kein anderer als er selbst war. Besser: Ein Teil von ihm, der ihm Angst machte. Seine Eltern hatten eine stürmische Beziehung, sein Vater stammte aus Russland, seine Mutter aus Schottland, beide lebten in Frankreich. Zur Geburt war seine Mutter nach Großbritannien gereist, nach der baldigen Trennung steckte sie Nick in ein Internat, wo er nach eigenen Angaben gehänselt wurde. Er betrachtete es als Glück, dass er nicht den Nachnamen seines Vaters trug, Miansarow, sondern den seiner Mutter. "Ich hatte große Angst, dass das jemand rausfinden würde. Die anderen hätten sich wohl gedacht, 'das ist ein verdammter Russe, wahrscheinlich ein Jude', dann hätten sich mich noch ärger verprügelt.".
An der Uni entdeckte er die Technik des automatic writing und begann, seine Gedanken aufzuschreiben, wie sie ihm kamen. So entstand auch der Albumtitel. "Der Albtraum bestand darin, dass ich herausfinde, in Wirklichkeit Russe zu sein, nicht Garrie. Das ist also die Geschichte hinter Stanislas".
Ein Bewusstseinsstrom, der gut zu den ausgehenden 60er-Jahren passte, auch wenn Garrie mit Drogen nichts am Hut hatte, wie er meint. Ob das Album auch mit entsprechender Promotion 1969 Erfolg gehabt hätte, lässt sich schwer beantworten. Fest steht, dass Vartan trotz Garries Ablehnung Außergewöhnliches leistete. Das lässt sich gut feststellen, indem man die Brüsseler Demos, die hier als Bonusmaterial enthalten sind, mit den Albumversionen vergleicht.
Gerade der Titeltrack gewinnt am meisten. Im Original klingt Garries Stimme etwas angestrengt, eine einfache Gitarre begleitet die träumerische Melodie nur ungenügend. Ganz anders die LP-Version mit anregenden Streichern, die die Stimmung des surreal anmutenden Textes gut untermalen: "My window pane is a little cracked / One day I'll mend it, wipe away my tracks / I met a crab today in my backyard / I tried to smile but it was too hard".
Geradliniger fällt "Bungle's Tours" aus, eine augenzwinkernde Abrechnung mit Pauschaltouristen aus Großbritannien, die das Ausland überrollen ("The French are crooks so put your trust in us / We'll get you fish and chips / And English beer to wet your lips"), mit Schunkelbegleitung, die an "Don't Pass Me By" der Beatles erinnert.
Die Sehnsucht von Garries vermutlich schönstem Lied intensivieren die Streicher in "Deeper Tones Of Blue" ohne kitschig zu wirken ("I'd like to love you / If that means anything / And watch your eyes turn deeper tones of blue"), bei "Evening" passt die Begleitung eher nicht. Das liegt am gespenstischen Ton des Stücks, bei dem sich die Dunkelheit über Stadt und Gemüter legt. "The cinema is dark and empty / The doors are closed right down / The projectionist is drunk somewhere / In a room in the middle of town." Das unschöne Gefühl der Einsamkeit vermag Garrie mit seiner Gitarre und ohne Begleitung besser vermitteln. Auch wenn sie in diesem Fall nur aus einer Trompete besteht, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich Garrie bereits mit Vartan verworfen.
Der Rest der Albums hält das hohe Niveau. Lediglich "Queen Of Queens" fällt aus dem Rahmen. "Die Kritiker mögen es nicht, die Engländer hassen es", stellt Garrie fest. Er schrieb das Lied eines Abends, nachdem er eine Anhalterin mitgenommen hatte, die sich dann als Transvestit outete. Die Abneigung dürfte aber weniger an der Situation als am Countryrock mit Elvis-Anleihen liegen, die so gar nicht zum Rest des Albums passen wollen.
Von den nicht berücksichtigten Brüsseler Demos sticht "Cambridge Town" hervor, ein Duett mit einer jungen Frau, die Garrie in der noblen Küstenstadt Saint Tropez kennengelernt hatte und bei der er während der Aufnahmen in Brüssel übernachtete. "Ich fragte sie, ob sie singen könne. Sie antwortete, dass sie es nicht wisse, sie habe es noch nie versucht. Wir gingen ins Studio, und sie sang. Das war der erste Take, kaum zu fassen. Ihre Stimme ist wunderschön. Dabei kenne ich nicht mal mehr ihren Namen, ich habe sie danach nie wieder gesehen. Ich würde ihr gerne ein Exemplar des Albums schicken, aber wie soll ich sie finden?", berichtet Garrie im Booklet.
So kompliziert, wie die Geschichte dieses Albums ist, gibt es vielleicht zumindest in dieser Hinsicht ein Happy End.
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