laut.de-Kritik
Die Geburtsstunde einer der besten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts.
Review von Sven KabelitzWie eine ägyptische Königin betritt Nina Simone am 15. September 1959 die Bühne der Town Hall in New York City: gefasst, bedächtig und ernst. Noch ist sie nicht die Hohepriesterin des Souls, noch nicht die wütende Frau, die aus ihr heraus bricht, nachdem bei einem Attentat am 5. September 1963 in der 16th Street Baptist Church in Birmingham vier Mädchen beim Bibeluntericht ihr Leben lassen. "Mississippi Goddam" und ihr Kampf für das Civil Rights Movement liegen noch vier Jahre in der Zukunft.
Lange bevor sich Rosa Parks weigert, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen, bläst dem schwarzen Wunderkind Eunice Kathleen Waymon in North Carolina der Rassismus ins Gesicht. Im Klavierunterricht lernt sie früh Bach, Chopin, Brahms, Beethoven und Schubert lieben. Sie will die erste schwarze Konzertpianistin Amerikas werden. Man sagt ihr, sie sei hässlich. Ihre Lippen zu groß, ihre Haut zu dunkel, ihre Nase zu breit. In ihr schlummern Wut, Qual, Unsicherheit und die Gier nach Liebe und Anerkennung. Ihr Leben läuft auf die eine Frage hinaus: Will sie sich wie ein ängstlicher Welpe in der Ecke verstecken, oder wie eine Löwin dem Kampf stellen?
Ihre Entscheidung fällt früh. Als Eunice im Alter von elf Jahren, jung, begabt und schwarz, bei einem ihrer Konzerte mit ansehen muss, wie ihre Eltern gezwungen werden, ihre Plätze in der ersten Reihe für eine weiße Familie zu räumen, weigert sie sich, weiterzuspielen. Erst als sie das Recht ihrer Eltern durchgesetzt hat, nimmt sie wieder auf ihrem Klavierhocker Platz. "There's a world waiting for you / This is a quest that's just begun."
Fünfzehn Jahre später bedeutet "Nina Simone At Town Hall" für die junge Künstlerin den Durchbruch. Ein Konzert und eine Platte, die sie in den Fokus der Öffentlichkeit katapultieren. "Die besten Kritiken, die ich je bekam. Ich war eine Sensation. Ein Overnight Success, wie in den Filmen", erinnert sich Simone in ihrer Biografie "I Put A Spell On You".
Für ihren vierten Longplayer, der bei Colpix erscheint, verbindet sie sparsam instrumentierten Jazz mit Folk und Blues. Ihrer Stimme und ihrem Klavier stehen nur Jimmy Bond am Bass und Al 'Tootie' Heath am Schlagzeug zur Seite. Beide spielten bereits auf ihrem Debüt "Little Girl Blue". Jeden einzelnen der zehn Songs macht sie sich ganz zu Eigen und zeigt eine emotionale Brandbreite, die ihr Publikum mit glänzenden Augen und offenen Mündern zurücklässt.
Zu Beginn tröpfeln die Klaviernoten in "Black Is The Colour Of My True Love's Hair" noch zart wie warmer Sommerregen herab, bis sie sich mehr und mehr zu einem aggressiven Wasserfall verbinden. Simone breitet ihre Akkorde aus und setzt mit ihrer einzigartigen, zwischen den Welten lebenden Stimme ein. Zu tief für eine Frau, zu hoch für einen Mann. "Black is the colour of my true love's hair / His face so soft and wondrous fair / The purest eyes and the strongest hands / I love the ground on where he stands."
Vom ersten Augenblick an fesselt sie in diesem Folk-Klassiker voll hypnotischer Schönheit mit schmerzhafter Intimität. Die Störgeräusche, das Rauschen, absurd eingespielter Applaus und seltsame Artefakte, die bis heute jedem Remastering Widerstand leisten, stören nur noch hartgesottene Audiophile. Denn dem deformierten und verdrehten Klang entgegen steht die unfassbare Präsenz der Künstlerin. Die Zuschauer lauschen gebannt. So leise, dass man jedes Keuchen und Husten vernimmt.
Erst mit "Exactly Like You" greifen Jimmy Bond und Al 'Tootie' Heath direkt ins Geschehen ein. Mehr als diese minimalistische Besetzung benötigt die Hohepriesterin nicht, um im großen Jazz-Stil zu swingen. Im grazilen "The Other Woman", das wie "Cotton Eyed Joe" und "Wild Is The Wind" erst einen Monat später im Studio entstand, glänzt Simone als zeitlose Geschichtenerzählerin. Empfindsam interpretiert sie in der Story mit cleverem Twist ein lebendiges sowie bittersüßes Bild. Wohl einer der sensibelsten Momente auf "Nina Simone At Town Hall", getragen von spürbarem Herzschmerz. "He'll find her waiting like a lonesome queen / 'Cause when she's by his side it's such a change from old routine ... / But the other woman will always cry herself to sleep / The other woman will never have his love to keep / And as the years go by the other woman will spend her life alone."
In den Instrumentals "Under The Lowest" und "Return Home" zeigt sich Simone als begnadete Pianistin mit bemerkenswerter Technik und brennender Seele. In ihren Improvisationen sucht sie immer wieder nach neuen Ausflüchten aus eingefahrenen Routinen. Durch die Savanne von "Return Home" flüchtet die gazellenhafte Pianolinie vor der Urgewalt seiner Interpretin. Ekstatisch geht Simone in ihrer Schöpfung auf, in der jede Note eine besondere Bedeutung zukommt. Sie summt mit, feiert den Moment und lebt die Musik.
Aus den schmutzigen Straßen von George Gershwins Catfish Row erhebt sich "Summertime" und teilt sich in zwei Hälften. Der erste instrumentale Teil spielt mit eingefädelten Versatzstücken aus "Porgy & Bess", bis schlussendlich immer deutlicher das bekannte Haupt- und Filetstück hervorbricht. Simone variiert die Gesangslinie bis zur Unkenntlichkeit, nur ihr Klavier hält sich an der altbekannten Melodie fest. Der staubige Lärm von Al 'Tootie' Heaths Becken erhebt sich über den Asphalt.
Tief im 19. Jahrhundert und dem Süden Amerikas liegen die Wurzeln von "Cotton Eyed Joe", dem Lied, den Rednex Mitte der 1990er den Garaus machen. Noch heute versammeln sich verwirrte Seelen zum Klang der Fidel in Westernblusen, Fransengürteln und Chaps, um in Westerntanzschulen zu dem Song die Tradition des Line Dance aufrecht zu erhalten. And all the ladies: to the left! Damit hat Simones Interpretation nur wenig gemein. In einer sanften, dem Wind ausgesetzten Jazz-Ballade entfaltet sie Joes mehrdeutige Geschichte gemächlich und federleicht.
Erstmals singt Nina Simone den Film-Klassiker "Wild Is The Wind". In ihren Händen wächst die im Original von Johnny Matis vorgetragene Schnulze zu einem der edelsten Liebeslieder heran. Wie der Wind streichen ihre Hände über ihr Klavier. In ihrer Stimme weht die Macht der Leidenschaft. David Bowie, begeistert von Simones Stil, covert den Song später auf "Station To Station". "With your kiss my life begins / You're spring to me, all things to me / Don't you know you're life, itself ... / For we're like creatures of the wind / And wild is the wind."
Nina Simone, eine der besten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts, stirbt am 21. April 2003 im Schlaf in der französischen Gemeinde Carry-le-Rout. Doch auch nach ihrem Tod bleibt ihr Werk schmerzhaft wahr, aufrecht und allgegenwärtig. Scheinen andere Künstler nur wie ein Regentropfen im Fluss auf dem Weg zum offenen Meer, war die High Priestess of Soul in ihrer Liebe zur Musik wild wie der Wind, beständig wie die Erde, unendlich wie der Ozean und beißend wie das Feuer.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
8 Kommentare mit 7 Antworten
yes, sehr schön, dass so etwas hier gewüdigt wird. absolute queen.
Bei ihr finde ich immer faszinierend, wie ihre klassische Klavierausbildung aus den Solos herauszuhören ist.
Album kenne ich leider noch nicht, wird aber mit Sicherheit nachgeholt!
godlike.
Sven, wie immer 1 setzen!
Schön auch, dass ihr euch für diese grandiose Sängerin entschieden habt und nicht im Obskuritätenkabinett der Herren Kubanke und Cordas gewühlt habt.
Die großartigen Songs Wild is the wind, Sinnerman oder auch Don't let me be misunderstood sind für mich einige der großartigsten Songs überhaupt. Von letzterem gibt es eine sehr geile und hypnotische Jazzversion auf Youtube zu sehen. In Verbindung mit dem Bildmaterial laufen mir immer wieder Schauer über den Rücken.
Schade, dass sie immer eher Kritiker- als Verkaufsliebling war...
Freilich ein würdiger Meilenstein, aber welch überflüssiger Seitenhieb auf Cordas und Kubanke.:( Gerade die beiden Herren beweisen immer wieder guten Geschmack und lenken den Blick abseits des auf laut.de ansonsten allzu sehr kreuz und quer durch genudelten Mainstreams.
Sehe ich genauso Digger. Und mit dem Seitenhieb hast du natürlich recht. Aber Obskuritätenkabinett finde ich jetzt auch nicht negativ.
Bei Biosphere letzte Woche dachte ich zunächst: WTF? Dann habe ich reingehört und fand das klasse. Ob es nun gerade ein Meilenstein ist, sei dahingestellt. Es ist ja keine bahnbrechende Platte, die eine neue Richtung definiert hat oder dergleichen. Genau wie der Tittenpunk, den der Anwalt hier in dieser Rubrik mal gebracht hat. Irgendwann freue ich mich halt wieder über einen etwas nachvollziehbareren Klassiker. Der trotzdem jenseits der Konvention und dem allgemeinen Hörgeschmack liegt.
Die Rubrik an sich ist wunderbar und ich finde es geil, dass die Simone hier eine tolle Würdigung erhalten hat.
Mit deinem Mainstreamkommentar trittst du aber auch vielen auf die Füße. Hier gibt es eine Reihe Rezensionen abseits davon.
Was für Tittenpunk?
Alien Sexfriend. Ich sag immer Tittenpunk dazu.
Unter Mainstream verstehe ich im weiteren Sinne eben auch, wenn man sich vor Allem auch die gehypten Themen stürzt. Warum muss laut.de so ausgiebig Trash-TV wie DSDS, Dschungelcamp, MTV-Awards und Grammys abhandeln? Auf der anderen Seite fällt soviel Bewegendes und Interessantes unter den Tisch, was deutlich mehr mit Musik zu tun hätte.
die dame hats drauf..."sings the blues" ist einer meiner lieblinge
Black Is The Color Of My True Love's Hair und Wild Is The Wind sind zwei meiner absoluten Lieblingssongs von ihr (neben Lilac Wine, Four Women und Sinnerman)! Verdienter Meilenstein! Wie wäre es denn als nächstes mit Coil oder Throbbing Gristle?
Gristle müsste der Anwalt erstmal aus seinem Obskuritätenkabinett wühlen. ^^
So isses. Kommt bestimmt nächste Woche...