laut.de-Kritik
Kreativ, extravagant, nicht durchweg geschmackssicher.
Review von Dennis RiegerSchritte hallen von den Wänden des Hauses eines verstorbenen Patriarchen wider. Eine weitere potentielle Erbin öffnet eine quietschende Flügeltür. Was sie erwartet? Filigran-robustes Drumming, heavy Riffs, eine angejazzte Keyboardpassage, ein Mellotron aus dem Handbuch des Retro-Prog, operettenhafter Gesang – und Growls, zum ersten Mal seit "Watershed". Opeth sind zurück und bringen eine alles niederwalzende Wall of Sound mit.
Auf "The Last Will And Testament" kredenzt uns die Band um Mikael Åkerfeldt acht Songs, darunter sieben mit einem Paragraphen im Titel. Die Paragraphen stehen stellvertretend für die Abschnitte des albumtitelgebenden Vermächtnisses. Åkerfeldt grunzt, trilliert und säuselt eine in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelte Geschichte über Geldgier, Bigotterie und einen unbekannten Stammbaumzweig. Unterstützung bei der Vertonung der finsteren Mär erhalten Opeth, ergänzt um Neuzugang Waltteri Väyrynen (ehemals bei Paradise Lost) an den Drums, vom berühmtesten Querflötisten der Rockmusikgeschichte. Ian Anderson greift nicht nur in drei Songs zu seinem Paradeinstrument, sondern übernimmt in vier Tracks auch die Stimme des ehemaligen Familienoberhauptes, das den raffsüchtigen Nachkommen posthum das eigene Testament vorliest.
Wer nach Åkerfeldts Ankündigung, wieder zu growlen, eine konsequente Rückkehr zu den Prä-"Heritage"-Opeth prognostizierte, irrte. Wer eine Mixtur aus Opeths Death-Metal-Wurzeln und dem Retro-Prog der vergangenen vier Alben erwartete, kam der Wahrheit viel näher. Die Stilmittel des Death Metal treffen aber nicht nur auf jene des Anfang-70er-Prog, sondern auch auf jene des Hardrock. Doublebass und Metal-Riffs umarmen Mellotronklänge und verzerrte E-Gitarren. "The Last Will And Testament" schichtet Soundschicht über Soundschicht, kommt zudem mit Unterstützung des London Session Orchestra so sinfonisch wie kein vorheriges Album der Band daher.
Im Opener und in "§7" geht die unorthodoxe Rechnung perfekt auf. Die jeweiligen Bassläufe und Riffs schenken den Tracks ein stabiles Fundament und sorgen für einen hypnotischen Sog. Aus Elementen wie einer Hammond-Orgel, Growls, Ian Andersons Spoken Words und gospelartigen Gesangslinien schmieden Åkerfeldt und Co. in "§7" ein nicht nur äußerst spaßiges, sondern wundersamerweise auch stimmiges sechseinhalbminütiges Ganzes. Hier zeigt Åkerfeldt, dass er zur Songwriter-Elite gehört.
Auch "§2" mit seinem gespenstisch-schönen Intro und dem operettenhaften, an Matt Bellamy erinnernden Gesang entzückt. Dass man eine Gesangslinie schon einmal in Alan Parsons' "The Raven" und eine Keyboard-Passage in Steve Hacketts "Shadow Of The Hierophant" gehört zu haben glaubt, fällt nicht stark ins Gewicht. Wenn schon Eklektizismus, dann auf diesem Niveau!
In anderen Songs gelingt der Stilmix weniger. "§4" lässt sich am ehesten als Retro-Variante der lustigen, aber nicht gerade geschmackssicheren Metal-Opern-Exzesse Devin Townsends zu "Epicloud"-Zeiten beschreiben. Ein eineinhalbminütiges Riffgewitter bricht abrupt ab, um Platz für Mikael Åkerfeldts Säuselgesang zu machen, der wiederum Ian Andersons Querflöte weichen muss, ehe wieder unvermittelt zu harten Riffs gegrunzt wird. Nicht immer ist das Ganze mehr als die Summe seiner (perfekt eingespielten) Teile. Die Hart-weich-Kontrastierungen erfolgten auf "Still Life" und "Blackwater Park" eleganter.
In den Tracks "§4" und "§5" wirkt der gutturale Gesang wie ein Fremdkörper im sonst deutlich in den 1970ern verankerten Soundkosmos. Im Gegensatz zu Ian Andersons (sich allzu sehr an längst zum Genreklischee gewordenen Pink-Floyd-Samples orientierenden) Spoken Words erfüllen die Growls songtitelübergreifend keinen narrativen Zweck. Die Rückkehr des Kehlgesangs mit dem alleinigen Ziel, alte Fans wieder an Bord zu holen? Entgegen aller anderslautenden Erklärungen Åkerfeldts liefert das Album Gründe für diese Annahme.
Der Closer "A Story Never Told" fährt die Geschwindigkeit herunter und ist vergleichsweise dezent instrumentiert. Ein herrliches gilmoureskes Gitarrensolo und geschmackvoll eingesetzte Streicher versöhnen mit dem wie immer technisch perfekten, aber hier ein wenig arg pathetischen Klargesang Åkerfeldts. Der luftige Song weist die Atmosphäre auf, die überladenen Tracks wie "§4" und "§5" abgeht.
"The Last Will And Testament" stößt mit seinem wilden Stilmix zunächst sowohl Jünger der reinen Death-Metal-Lehre als auch Freunde der Retro-Prog-Phase Opeths vor den Kopf, enthüllt aber bei jedem Hördurchlauf mehr von seiner verqueren Schönheit. Ein Satz wie "Instead of the usual instant rush, expect to favour the strange over the obvious" mag bei anderen Musikern ein Euphemismus für "Uns fiel das Songwriting schwer" oder "Man kann sich alles schönhören" sein. In diesem seltenen Fall trifft der Promotext aber den Nagel auf den Kopf.
Die mit "Blackwater Park" und der schwedischen Version von "In Cauda Venenum" erklommenen höchsten Qualitätssphären erreicht "The Last Will And Testament" nicht. Doch auch Opeths aktuelle Hard-Retro-Prog-Death-Metal-Operette sprudelt geradezu über vor Kreativität, unterhält durchweg und fasziniert. Potentielle Erben, die einen ähnlichen Genremix in dieser Qualität darbieten können? Nicht in Sicht.
6 Kommentare mit 15 Antworten
Eine nachvollziehbare Rezension, wobei ich bei der Kritik an §4 anmerken möchte, dass auch auf Blackwater Park manchmal die Wechsel der einzelnen Segmente sehr plump ausfallen (vor allem auf „Dirge for November“).
Ansonsten hört man die sieben Parapraphen am besten am Stück, denn so kommt die Gesamtstimmung des Albums am besten rüber. Beim letzten Album habe ich mich manchmal an der Opulenz der Stücke schwer getan, weil dadurch der Pathos für mein Befinden häufig zu stark wurde. Hier wird (außer beim letzten Track) jeder entstandene Pathos durch die hervorragend eingesetzten Death Metal Elemente niedergewalzt, um ihn dann wieder aufzubauen und schließlich auch damit abzuschließen. Fünf Sterne von mir und klar mein Album des Jahres.
Was soll eigentlich immer das Geschwätz vom "grunzen"? Niemand grunzt hier.
Das scheint die allgemein anerkannte Übersetzung für „growl“ zu sein.
mag ja sein, klingt aber einfach nur dumm. So drücken sich vielleicht Leute aus, die sonst eher Maite Kelly und "die, die immer lacht" belauschen.
herabwürdigende Bezeichnung, die der Thematik eine gekünstelt naive Stumpfheit unterstellt und somit nicht ernst nimmt
^This
Im englischen Sprachgebrauch gibt es den Begriff aber auch.
Grundsätzlich stimme ich zu, dass der Begriff die Technik herabwürdigt. Passt höchstens zu den aktuellen Versuchen eines Chris Barnes.
wenn ,an schon "Grunzen" sagt, müssen halt auch pig squeals gemeint sein
*man
"Grunzen" heißt "to grunt". "To growl" eher "knurren".
Übrigens: Abgesehen von den Growls ist die Passage, die mich am meisten an die Band in den 00er Jahren erinnert, das Intro von „Story never told“. Diese Art von Sound und Gitarrenspiel klingt sehr nach z.B. Damnation und macht einen wohlig nostalgisch. Die harten Passagen hingegen klingen abseits vom Gebrüll selten nach früheren Opeth.
Ohne die Cookie-Monster-Vocals wärs viel mehr badass. Aber ein paar Rotierungen können es noch werden.
Åkerfeldt klang noch nie nach Krümelmonster. Bei dieser Art von Vocals ist er in einer eigenen Liga.
Ach so. Na, dann gefallen mir seine Vocals natürlich!
Ne, ernsthaft - sobald jemand mit dem Growlen anfängt, fange ich völlig Skill-unabhängig an zu kichern. Ja ja, Ludwig Björn Steven... Bist ein richtig finsterer Bad Boy! Tätschel, tätschel.
Fand die Entwicklung sehr gut von Åkerfeldt, davon abzurücken. Live hatte ers natürlich immer wieder gemacht (oder machen müssen), deswegen ist dieser Rückgriff natürlich erwartbar gewesen. Hier tötet es jedenfalls mein Hörvergnügen nicht so sehr wie auf den alten Platten, und das freut mich schon mal.
Ich finde Joe Duplantier growlt noch einen Ticken besser.
Sperrig, rastlos, zerstückelt - das waren meine Eindrücke nach den ersten zwei, drei Durchläufen. Dann bleiben die Parts langsam aber sicher hängen und in Kombination mit der Geschichte (und der coolen Aufbereitung der Deluxe Box ) ergibt sich immer mehr ein schlüssiges Gesamtprodukt. Wahnsinnig geiles Songwriting, technisch perfekt ausgeführt und eine glasklare Produktion machen das Ding hier zu nem absoluten Grower und contender für AOTY.
Ein absoluter Growler.
Die Mette growlt!
Da grow(l)t was auf dem Åkerfeldt.
Schande über mein Haupt, dass ich den hab liegen lassen.
Ich bin überrascht und kann die in Kritik in keinster weise teilen. Für mich klingt das alles wie aus einem Guss. Zwar höchstgradig vertrackt, aber das macht das ganze ja erst so attraktiv. Auch die Bezugnahme auf einzelne Songs finde ich völlig daneben. Ich meine, noch offensichtlicher als auf den Verzicht von Songtiteln kann man es ja eigentlich gar nicht machen, dass man das Album durchhören muss, oder? Für mich ist das das beste Album seit mindestens Pale Communion, und schlägt In Cauda Venenum um Längen.