laut.de-Kritik

Hartmut Engler fühlt, was andere nicht denken.

Review von

40 Jahre Pur: Die schwäbischen Meister der Gefühligkeit, die Hitparadenreiter der 90er- und 00er-Jahre sind zurück mit einem sehr "persönlichen" Album. Unter Gefühligkeit versteht man das, was vor der politischen Vereinnahmung der Vokabel auch Geschwurbel hieß. Aneinanderreihungen krummer Bilder, profane Poesie und die eher intuitiv begründete Verwendung von Adjektiven zur Ausschmückung schwer vermittelbarer, meist emotionaler Zusammenhänge. Irgendwie versteht man schon was da gemeint ist: Bauchdenken. Das Herz fühlen lassen. Wohl, praktisch, sozusagen, eigentlich, halt. Und dahinter immer die Wahrheit.

Hartmut Engler ist der Wortführer der Sprachlosen des vereinten Deutschlands. In Ost wie West kommt seine Vorstellung vom "Abenteuerland" gut an. Das Unentschiedene im Satz, das jede zensurfähige Haltung pathologisch verhindert, hat er vom DDR-Rock. Das schlechte Songwriting, immer orientiert an der poliertesten Phil Collins-Glatzenphase, aus dem West-Pop. Mit dünnen Analogien zieht er am grauen Sackhaar der Republik. Engler fühlt, was andere nicht denken.

Das neue Album heißt "Persönlich" - waren die anderen ("Zwischen den Welten" erschien 2018) demnach eher distanziert? Bestimmt nicht, aber was Engler wohl praktisch sozusagen eigentlich halt meint, ist, dass ihm die zwei Corona-Jahre ganz schön an die Nieren gegangen sind. Oder an die Leber? Der erste Song heißt "Voll Sein" und tönt so: "Ich will voll sein / Richtig voll sein / Voller Freude, voller Liebe / Voll bis obenhin, bis obenhin mit Herz". Falsche Unterstellungen sollte man von Anfang an vermeiden. Dass Hartmut Engler, der Ende der 00er-Jahre mit ernsthaften Alkoholproblemen zu kämpfen hatte, sich wieder zur Flasche bekennt, zählt zu den Fake News. Lügen und Verwirrung sind schließlich ein Symptom unserer Zeit: "Die Zeit der Zahlendreher / der Bedenkenträger / der Falschberater / der Geisteshacker / hat uns zugesetzt!"

Das dritte Lied namens "Immun" klingt verdächtig nach Selbsthilfegruppe. Es geht um das Psychogramm eines zutiefst unglücklichen Patienten: "Du lästerst viel und du denkst dabei / Du bist ein schwacher Mensch / Du traust dir nicht und wenig zu / bist neidisch und dir fremd". Engler aber stellt eindeutig klar: "Wenn du dich selber liebst / Wird alles leichter / Dann lässt du zu / dass es auch Andere tun / Lern dich zu lieben / Sonst macht dein Leiden / Dich irgendwann / gegen die Anderen immun." Mut zusprechen, das eindeutig Gute tun. Bono von U2 und Dave Grohl von den Foo Fighters sind solche Vorbilder. Papst Franziskus und der sechzehnte Dalai Lama. Das Wort zum Sonntag und das "Bunte"-Horoskop.

Pur lassen keinen Zweifel an ihrem gemeinnützigen Auftrag. In "Verschwörer" geht es den viel beschworenen "Corona-Leugnern" und "Querdenkern" erstmal richtig an den Kragen. Gleich zwei Versionen Aufklärung bedarf es zur Abhandlung des neuen Volkstopos. Die leise Interpretation namens "Verschwörer (leise)" klimpert eindringlich, prozessorgenerierte Effekte streicheln breitwandig Nackenhaare, sanfte E-Piano-Sounds und hallende Alleinunterhalter-Keyboards füllen das Stadion. Einfach geil mit einem Veltins vom Fass, auf Schalke 2022, bestimmt für 5€ plus Pfand im Plastikbecher.

"Verschwörer (laut)" dreht dann sogar sanft am Gain-Regler des Gitarrenverstärkers. Lyrisch Eindeutiges: "Ich bin dein Verschwörer / Ich trink das Blut der Kinder / Verschwinde durch das Internet / Und tauche wieder auf / Da wo das Hirn / brachliegende Synapsen / an die flache Erde / und nicht an das Virus glaubt." Winfried Kretsch... äh... Hartmut Engler holt die verschwurbelten Demeter-Schäfchen wieder zurück auf die schwäbische Alb. Das Bundesverdienstkreuz bekam er schon 2010.

Damit es nicht heißt, Pur bewegten sich heutzutage einzig auf dem trockenen Pfad des ernsthaften Aktivismus zur Förderung unserer Demokratie, gibt es sie natürlich: Liebeslieder. "Abrakatrina" schrieb Engler für seine Langzeitverlobte Katrin. Eine dritte Heirat sei ausgeschlossen, berichtete die "Bunte" wiederholt. "Bei deinen Kanten / deinen Kurven / werd ich wohl noch staunen dürfen / Zauberhaft! / Was hab ich mir beschert!" Keine Spekulationen mehr, Schluss mit den Verschwörungstheorien: Bei den Nichteheleuten Engler läufts eindeutig gut im Bett.

Weil eben irgendwie immer noch Bandjubiläum ist (Corona verschleppte die zugehörige Tour um zwei Jahre) gibt's eine neue Version des ersten Radioschlagers "Funkelperlenaugen" von 1988. Was damals klang wie Westernhagen, Eros Ramazzotti, Zillertaler Schürzenjäger und alle anderen internationalen Größen der Behaglichkeitsbeschallung, klingt knapp 35 Jahre später noch kuschliger. Die US-amerikanische A-capella-Truppe Naturally 7 füllt alle Frequenzgänge mit ihren Kehlen – leicht soulig, nicht so deutsch wie die Prinzen. Geht runter wie Öl, der Coca-Cola-Weihnachtstruck fährt in Gedanken schon vor.

Mehr ist nicht zu sagen, Bietigheim-Bissingen produziert alte Sicherheiten in einer zunehmend wankenden Welt.

Mensch, unser Hartmut
Persönlich, PUR
Die Zeiten ändern sich
die Zeit verläuft
wie Sand in einer Uhr

Alle paar Jahre ein neues Album
immer wieder das pralle Glück
Ich hör' die 90er vorbeizieh'n
und ich will sie nicht zurück.

Trackliste

  1. 1. Voll sein
  2. 2. Laune
  3. 3. Immun
  4. 4. Abrakatrina
  5. 5. Ein gutes Morgen
  6. 6. Persönlich
  7. 7. Verschwörer (leise)
  8. 8. Verschwörer (laut)
  9. 9. Ist es mein Gesicht
  10. 10. Im Pool
  11. 11. Komet (Muonionalusta)
  12. 12. Herzlich willkommen
  13. 13. Staub
  14. 14. Funkelperlenaugen 2022
  15. 15. Herzensgut
  16. 16. Wir waren und wir werden

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10 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    "Das Unentschiedene im Satz, das jede zensurfähige Haltung pathologisch verhindert, hat er vom DDR-Rock. "

    Dieser Satz sagt mehr über den Verfasser, als über den Gegenstand, über den geschrieben wird.

    Würde mich mal interessieren, welche Gruppen / Persönlichkeiten der Rezensent da so im Sinn hat. Einem Gerulf Pannach oder einer Tamara Danz pathologische Haltungslosigkeit zu unterstellen ist dumm-dreist, aber wahrscheinlich sind diese Namen gar nicht erts bekannt. Warum auch.

  • Vor 2 Jahren

    „Einfach geil mit einem Veltins vom Fass, auf Schalke 2022, bestimmt für 5€ plus Pfand im Plastikbecher.“
    5€ sind schon lange Geschichte. Sonntag bei Porcupine Tree in Oberhausen. Ein Köpi 0,4 für 6,20 €…

  • Vor einem Jahr

    Ich bereue, diese miesepetrige Pseudo-Kritik gelesen zu haben. Implizit macht er sich lustig über all diejenigen, die sich von den Texten und Musik von Pur emotional berührt fühlen. Schlimm, wenn man selbst nichts fühlen kann. Explizit wird das „schlechte Songwriting“ genannt, ohne jegliches Argument ausser der eigenen Gefühlslosigkeit. Das neue Pur-Album ist jedenfalls grossartig. Es beschreibt, wie man unter den Coronamassnahmen gelitten und diese, anders als Verschwörungsfanatiker und Coronaleugner, trotzdem akzeptiert haben kann, ja, vernünftigerweise akzeptieren musste. Das emotionale Spannungsfeld zu beschreiben ist eine Meisterleistung. Leider besitzt der Verfasser des Artikels weder die emotionale noch die kognitive Intelligenz, das zu erkennen. Ich bin es leid, dass solche Miesepeter anderen ihre Freizeitvergnügungen schlecht machen wollen, weil sie sich selbst für nichts begeistern können und ihren Frust darüber herauslassen wollen.