laut.de-Kritik
Berührend und fesselnd, ohne Netz und doppelten Boden.
Review von Kai Butterweck"Musik ist immer noch mein Stoff, mein Treibstoff", flüstert Reinhard Mey im November 2011 ins weite Rund des ehrwürdigen Münchner Circus Krone. Der eine oder andere Akkord sei in den vergangenen 45 Jahren dazugekommen, so der Berliner. Aber letztlich ist es auch an jenem Abend die Einfachheit aus manchmal kaum mehr als einer Handvoll Tonfolgen, die im Verbund mit dem unvergleichlichen Stimmtimbre einen Mann und seine Gitarre für tausende Zeitzeugen zum Nabel der Welt werden lässt.
Meys mittlerweile fünfzehntes (!) Livealbum präsentiert einen kompletten Konzertabend des Liedermachers während seiner letztjährigen "Mairegen"-Tournee. Zweieinhalb Stunden Musik, über die man eigentlich keine Worte verlieren muss.
Schönwetter-Fans des Hauptstädters werden sich sicherlich wundern, wo all die Grundschul-Musikunterrichts-Ergüsse wie "Über Den Wolken" oder "Annabelle, Ach Annabelle" geblieben sind. Natürlich hat Reinhard Mey auch anno 2012 noch einige verschmitzte und amüsante Erinnerungen zu erzählen, wie beispielsweise "Männer Im Baumarkt", die Fuchsbau-Hymne "Rotten Radish Skiffle Guys" oder "Antje", Meys Liebeserklärung an die großzügigste und liebenswerteste Imbiss-Besitzerin, die er je kennen und schätzen lernen durfte. Geschichten von früher, die bis heute nichts von ihrem individuellen Esprit, Wortwitz und Tiefgang verloren haben.
Insgesamt liegt der Fokus eher auf der Neuzeit und auf Erlebnissen, die den Sänger die letzten Jahre begleitet haben. Letztere waren beileibe nicht immer mit Frohsinn behaftet. Man muss schon gehörig schlucken, wenn der Berliner mit den Songs "Drachenblut" und "Ficus Benjamini" die ganz private Familienschatulle öffnet und offen über die Wachkoma-Tragödie seines Sohnes singt.
"Gib Mir Musik" berührt den Hörer mit jeder gespielten Note und jeder einleitenden erzählten Anekdote. Die Anwesenden danken es dem Sänger mit Andacht und Ruhe während seines Vortrags und reagieren zwischen den Songs mit euphorischem Beifall. Auch Reinhard Mey bedankt sich: bei seiner Frau, seinen Freunden, seinem Kollegen Klaus Hoffmann, dem Leben und vor allem, wie im Eröffnungssong, bei der Musik, die er als Medizin und ganz persönliches Allheilmittel adelt.
In einer Zeit, in der nichts vergänglicher erscheint als populäre Musik, ist es schön, jemanden wie Reinhard Mey bei bester Gesundheit zu wissen, auch wenn ihm das Leben gerade in der jüngeren Vergangenheit nicht immer wohlgesonnen war. Jemanden, der die Kunstform liebt und lebt, ganz ohne Netz und doppelten Boden. In guten wie in schlechten Zeiten.
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Anspieltipp: Sei Wachsam !