laut.de-Kritik
Die spinnen, die Fans!
Review von Alexander CordasSoll man ihnen jetzt die Pest an den Hals wünschen? Sie verfluchen, auf dass nie wieder ein gerader Ton aus ihren Instrumenten komme? Ihre Platten aus dem Schrank nehmen und sie bei Ebay verkloppen?
Der europäische Fan kann nämlich ein Hohelied vom Leide singen, wenn es gilt, das Thema Rush live zu diskutieren. Sie lassen uns hier in "Old Europe" bereits seit über zehn Jahren an der langen Leine verhungern und ballern uns gleichzeitig ein Live-Album nach dem anderen um die Ohren, damit wir auch ja mitbekommen, was wir in der letzten Dekade so alles verpasst haben. Fuck You! Heul! Irgendwann kann auch der Genügsamste mit dem längsten Geduldsfaden nicht mehr an sich halten.
Die große Sensation für Rushisten kommt dieser Tage direkt aus dem Hauptquartier der Kanadier, die verlauten lassen, rechtzeitig zum 30-jährigen Bühnenjubiläum stünde eine Konzertreise durch Europa an. Wenn das mal keine guten Nachrichten sind und diese DVD ein guter Vorgeschmack ...
Zum ersten Mal in ihrer Bandgeschichte machte das Trio in Brasilien halt. Welchen Status es dort inne hat, zeigen schon die ersten Einstellungen, in denen glückliche Brasilianer das Stadion stürmen und sich freuen wie Kinder, endlich Rush live erleben zu dürfen. Die Vorzeichen waren nicht die besten, denn von den insgesamt drei brasilianischen Konzerten litten zwei unter Regen und Wind. Bei einem Gig fiel sogar Neil Pearts Midi-Equipment aus, was für die anvisierte Aufzeichnung in Rio nicht viel Gutes versprach. Zeitprobleme mit dem Equipment ließen weder einen Soundcheck zu, noch konnten die Kameras ihre Funktionstüchtigkeit beweisen.
Die DVD ist deshalb erfrischend unperfekt. Der Sound ist zwar ok, aber für eine Band, die stets State Of The Art ist, was Soundequipment anbelangt, hat das fast schon Trash-Charakter. Kameraschwenks wackeln oft heftig, Schnitte sind willkürlich gesetzt. Keine Frage jedoch, dass Lee, Lifeson und Peart trotz schwieriger Umstände eine beeindruckende Performance aufs südamerikanische Parkett legen und einen schönen Querschnitt aus ihrem Repertoire präsentieren.
Einen ganz großen Part spielt beim aufgezeichneten Gig das Publikum. Falls nicht nachträglich gravierend am Ton manipuliert wurde, klingt der Enthusiasmus der Menge fast unglaublich. Jede Textzeile, jeder Rhythmuswechsel erfährt seine lautstarke Untermalung seitens der Fans. Selbst beim Instrumental (!!) "YYZ" singen diese verrückten Südamerikaner mit, das muss man sich mal vorstellen! Die eingeblendeten Fans lassen da den Eindruck entstehen, hier würde Enrique Iglesias auftreten und nicht eine progressive Rockband.
Der zweite Teil von "Rush In Rio", schlicht "The Boys In Brazil" betitelt, gewährt einen äußerst spannenden Einblick in die Umstände und Hintergründe der Brasilien-Shows. Zu süß sind die Bilder der Fans, die, zu einem kurzen Meet & Greet geladen, in Tränen ausbrechen ... Es gibt sie noch, die wahre Begeisterung.
Das Trio nutzt in den diversen Interview-Sequenzen die Möglichkeit, ein wenig das Innenleben der Band zu beleuchten, wobei Alex, Geddy und Neil äußerst witzig und teilweise sogar albern auftreten. Wie das schick aufgemachte Paket verheißt, kann der findige Sucher zwei Ostereier entdecken. Ein Video zu "Anthem 1875" und die Animation "By-Tor And The Snow Dog" winken als Überraschung. Wie diese zu finden sind? Hm, lesen sollte man können und sich ein wenig mit der Zahlenmystik Rushs auskennen, aber auch nur ein wenig.
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