laut.de-Kritik

Ausgenüchtert zu einem neuen Sound.

Review von

Mit gerade mal 20 Jahren schon die erste gefeierte Platte veröffentlichen, dann zwischen Tour und Party rangieren. Was erstmal wie der Traum vieler junger Musiker*innen klingt, kann leider nicht endlos währen: Charlie Steen kam irgendwann zu dem Schluss, dass er nicht so unzerstörbar war, wie ihn die eskalativen Live-Shows seiner Band Shame glauben machten. Also richtete er sich in einer kleinen Kammer eine Art Meditationsraum ein, gestrichen in der Wandfarbe, die früher auch Ausnüchterungszellen zierte, um die Insassen zu beruhigen. Getauft wurde dieser Raum "the womb", also "die Gebärmutter". Der Name der Farbe: "Drunk Tank Pink".

Steen war aber nicht der einzige, der Veränderung brauchte. "Bei diesem Album war ich so gelangweilt davon Gitarre zu spielen", sagt Sean Coyle-Smith über die neue Platte seiner Band, was komisch klingt, wurden Shame doch 2018 gerade für ihre Post-Punk-Riffs gefeiert. Eine Gitarrenband, die keinen Bock mehr auf Gitarren hat? Nee, ganz so einfach ist es nicht. Coyle-Smith hat sein vorher oft brachiales Spiel überarbeitet. Steens Reflexion und Coyle-Smiths spielerische Neuordnung lassen die Songs nun häufig mehr nach Talking Heads, als nach Idles klingen, sie kombinieren Afrobeat mit Indie-Geschrammel.

Die Stücke entwickeln damit zwar selten die rohe Wucht des Debütalbums, klingen dafür aber filigraner und erwachsener und behalten dennoch die Rotzigkeit, die den britischen Post-Punk der letzten Jahre ausmacht. Es scheint fast so, als hätte die innere Einkehr auch das musikalische Schaffen aufgeräumt. Neben den Talking Heads ist als zweite große Inspiration die New Yorker Funk-Band ESG auszumachen, von denen sich Shame das Tanzbare abgeguckt haben.

"Are you waiting / To feel good? / Are you praying / Like you should?" grölt Steen im Opener "Alphabet", der mit walzenden Drums und reduziertem Gitarren-Spiel das Album einleitet. Dabei erinnert der Song stellenweise an die zugänglicheren Stücke von Black Midi. Steen klingt am besten, wenn er singt, als würde er mit dem Mikrofon im Clinch liegen. Eines der einprägsamsten Riffs liefert "Born In Luton", in dem Steen stark an Idles-Sänger Joe Talbot erinnert. In der Hook wird dann das Tempo rausgenommen, während Steen lamentiert: "I've been waiting outside for all of my life / And now I've got to the door there's no one inside".

Dieses Hakenschlagen, also die abrupten Dynamikwechsel, aber auch die wirren Rhythmen und Percussion-Einwürfe, etwa beim treibenden "March Day", sorgen dafür, dass man das Album in den ersten Durchläufen mehr bewundern als genießen kann. Je mehr man sich aber in die Strukturen einhört, desto mehr folgt man Steen in seinen passionierten Abhandlungen. "Harsh Degrees" ist ein weiteres gutes Beispiel für diese fordernden Songs. Er ist vollgepackt mit dröhnenden Gitarren, die man erst mal entwirren muss, bis es vollends knallt. "Great Dog" und "6/1" sind dagegen straighterer, fast durchgehend drängelnder Punk.

Willkommene Abwechslungen sind Songs wie "Snow Day" und "Station Wagon", in denen Steen mit Sprechgesang-Parts glänzt und der Krach nur partiell durchbricht. In "Snow Day" heißt es über schiebende Drums: "I feel the sting of mother nature / I'm going to close my eyes soon / And this is the only place I can do it / At the top of this hill / I sit down". Auch textlich kommt hier also die Selbstreflexion durch, die Steen benötigte, um sich selbst zu finden. Klanglich überrascht der Song mit einer Leadgitarre, die Erinnerungen an die früheren Editors weckt.

"Station Wagon" bleibt über lange Strecken erstaunlich reduziert, während Steen einen abstrakten, nachdenklichen Text serviert, mal sprechend, mal dröhnend. "The hits are heavy / But the misses are frequent / James Dean, juvenile delinquent", heißt es etwa in der ersten Hälfte, bevor in der zweiten ein Piano durchdringt und das Stück in einen fantastischen Klimax aufbricht. "Drunk Tank Pink" wirkt so im Vergleich zu "Songs Of Praise" wie das erwachsenere Album, das sich mehr Ruhe erlaubt und den Krach poliert.

Trackliste

  1. 1. Alphabet
  2. 2. Nigel Hitter
  3. 3. Born In Luton
  4. 4. March Day
  5. 5. Water In The Well
  6. 6. Snow Day
  7. 7. Human, For A Minute
  8. 8. Great Dog
  9. 9. 6/1
  10. 10. Harsh Degrees
  11. 11. Station Wagon

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