laut.de-Kritik

85 und noch kein bisschen müde.

Review von

Ihr Comeback 2016 war eine kleine Sensation: 38 Jahre waren vergangen, seit Shirley Collins ein Album veröffentlicht hatte. Nach der Scheidung von Bassist und Produzent Ashley Hutchins hatte sie ihre Gesangstimme verloren und aufgehört, Musik zu machen.

Dank ihrer Alben aus den 1960er und 1970er Jahren, in denen sie traditionelle britische Stücke mit teils experimentellen Arrangements dargeboten hatte, war sie nie wirklich in Vergessenheit geraten, und so stand sie 2014 mit dem Multiinstrumentalisten Ian Kearey nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder auf der Bühne. Sie fasste genügend Vertrauen, um mit Kearey in ihrem Haus das Album "Lodestar" (2016) aufzunehmen.

Vier Jahre später folgt nun mit "Heart's Ease" die zweite gemeinsame Arbeit. Diesmal in einem Studio in Brighton und mit einem hörbar größeren Selbstbewusstsein entstanden. Collins' klare, strenge, schnörkellose Stimme von vor 50 Jahren hat - wenig überraschend - an Kraft verloren, stellenweise scheint es sogar, als hätte Kearey mit Autotune oder ähnlichem Unfug nachgeholfen. Das sei den Beteiligten jedoch verziehen, denn sie haben eine wirklich hörenswerte Platte geschaffen.

1964 veröffentlichte Collins mit dem Gitarristen Davy Jones das Album "Folk Roots, New Routes", auf dem sie traditionelle Stücke mit unkonventionellen Arrangements interpretierte. Mit Kearey geht sie nun in dieselbe Richtung, auch wenn die Instrumentierung hier wesentlich dichter ist. Zum Zuge kommen neben Geige oder Dudelsack auch eine Radleier (das englische Hardy-Gurdy), Collins Stimme bleibt jedoch stets im Mittelpunkt.

Die Stücke hat sie sorgfältig ausgesucht und dabei sicherlich auch schmerzhafte Erinnerungen wachgerufen. Den Opener etwa hörte sie in Arkansas, wo sie 1959 über mehrere Monate Feldforschung mit dem Musikwissenschaftler Alan Lomax betrieb, dem wir unter vielen anderen die Entdeckung Lead Bellys verdanken. Die Frau, die das Lied über Verrat auf hoher See sang, hatte das Meer noch nie gesehen, und doch ein so bewegtes Leben gehabt, dass sie wusste, wovon sie sang. Tornados hatten ihren Mann umgebracht, ihr Haus zerstört, ihr Gesicht entstellt und schließlich auch das Büchlein fortgerissen, in dem sie ihr Repertoire aufgeschrieben hatte, berichtet Collins in den lesenswerten Liner Notes.

"Locked In Ice" erzählt die Geschichte eines Schiffs, das Jahrzehnte besatzungslos im arktischen Meer trieb, bevor es verschwand. Der Text stammt von ihrem verstorbenen Neffen Buz Collins. Mit seiner Mutter und ihrer Schwester Dolly hatte Shirley in den 1960er und 70er Jahren mehrere Platten aufgenommen.

"Sweet Blues And Greens/Sweet Greens And Blues" entstand 1964 während der Sessions zu "Folk Roots, New Routes" mit einem Text von Collins' damaligen Ehemann Austin John Marshall, erschien dann aber nicht auf dem Album. Als Gast ist hier Nathan Salzburg zu hören, Kurator des Alan Lomax Archivs und außergewöhnlicher Gitarrist, wie seine Zusammenarbeiten mit James Elkington bezeugen.

Den Schluss macht ein außergewöhnliches Stück, eine Hommage an die Klänge der südlichen englischen Küste, an der Collins lebt. "Crowlink liegt am Klippenrand mit Blick auf den Ärmelkanal und ist mein Lieblingsplatz, um auf das Meer zu blicken und über die Vergangenheit nachzudenken. Und über alles, was noch kommen wird", so Collins.

Das hört sich zuversichtlich an. Wenn es nach ihr geht, soll mit diesem Album auch noch lange nicht Schluss sein. "Ich kennen noch so viele Lieder. Und ich habe all die Jahre vergeudet, in denen ich nicht gesungen habe. Also muss ich jetzt ein bisschen aufholen!"

Trackliste

  1. 1. The Merry Golden Tree
  2. 2. Rolling in the Dew
  3. 3. The Christmas Song
  4. 4. Locked In Ice
  5. 5. Wondrous Love
  6. 6. Barbara Allen
  7. 7. Canadee-i-o
  8. 8. Sweet Greens And Blues
  9. 9. Tell Me True
  10. 10. Whitsun Dance
  11. 11. Orange In Bloom
  12. 12. Crowlink

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