laut.de-Kritik

Therapeutische Selbstdemontage ohne jeden Zynismus.

Review von

Hätte mir jemand Anfang des Jahres das ehrliche, erwachsene Sido-Album angedroht, ich wäre im Galopp davongelaufen. Nach einem Jahrzehnt, in dem der Mann nur belanglose Scheiße von sich gegeben hat. Da gab es Alben, die von nichts anderem außer Vertragspflichten und Deadlines inspiriert wurden. Jetzt kommt nun auch das Seelen-Striptease-Album. Mit Gruppentherapie am Anfang und dem Klischee vom bürgerlichen Namen als Titel (immerhin kein Kinderfoto als Album-Cover) und zu allem Überfluss noch von den üblichen Deutschpop-Opfern von vorne bis hinten Fabian Römer-esk durchproduziert. "Paul" ist mit dem perfekten Rezept zum deutschen Pop-Rap-Desaster zubereitet. Und das schlimmste? Es funktioniert. Nicht einmal trotz all dem, sondern wegen all dem. Es ist Sidos bestes Album seit "Maske" und so brutal ernst und ehrlich gemeint, dass es allen beteiligten Deutschpop-Zirkusfiguren undenkbar gute Arbeit abringt.

Die ersten Songs "Atmen", "Versager" und "Rollender Stein" lassen keine Fragen an der Aufrichtigkeit dieses Albums aufkommen. Sie zeichnen ein Bild von einem psychisch komplett kollabierten Sido, von Drogen-Kaputt und jenseits jedes Anspruchs zur Selbsterhaltung. In einer beispiellosen Oversharing-Orgie geht er therapeutisch an die Wurzeln, reißt alle Wunden der Vaterlosigkeit auf und bildet dann auch noch ab, dass er der genau gleiche Arsch geworden ist: "Rollender Stein" fängt hinter einer fadenscheinigen Liebeserklärung an die Kinder nagende Selbstzweifel ein, beobachtet, dass er eben fast gar nichts besser macht als der eigene Erzeuger und in den wichtigen Momenten emotional abwesend ist.

Überraschend konkrete und schonungslose Selbstanalyse für einen Albumeinstieg, der soundmäßig auch auf generischere Deutschpop-Projekte gepasst hätte. Es geht weiter mit Abrechnungen über Träume, deren Erfüllung ihn enttäuscht zurückließ. "Gar Nicht Mal So Glücklich" wähnt er sich auf einem gekonnten Kopfnicker-Beat neben Estikay, der erstmals das hören lässt, was Sido gehört haben muss, als er ihn gesignt hat. Tarek von K.I.Z rappt auf "Zwischen Den Wolken" ungefiltert über Suizidfantasien. Ein Faden, den Sido gekonnt und subtil mit den immer wieder angedeuteten Abschiedsbrief-Motiven annimmt und weiterführt.

Generell merkt man, dass Sido alte Stärken wieder aufnimmt, aber versteht, wie sie im Jahre 2022 an die Realität angepasst werden sollen. Die besten Lines sind oft nicht die Metaphern oder konstruierten Poesien, sondern die absolut kaltschnäuzigen, lakonischen Beobachtungen. "Ich konnte noch nicht laufen, Papa haut ab / Hat wohl kein Interesse mehr an seinem Bastard gehabt, tough". Mit diesem Trick fordert er mit der letzten Silbe Adlib noch einmal ein klein bisschen mehr Wirkraum ein und kleidet diese Lines mit unkomplizierten Ideen in simple Sprache. Erst in der Sekunde Stille dämmert es dann, was für eine irre deprimierende Sache er da gerade eigentlich gesagt hat. Tough, indeed.

Er bedient sich erfrischend wenig klassischer Therapeutensprache, spricht wenig in Dogmen oder Phrasen, sondern bleibt in der Welt seines Erlebten und seiner konkreten Erfahrung. Das macht ihn nicht immer gefeit davor, ab und zu wehleidig oder ein wenig platt zu klingen, aber das textliche Niveau hält sich wacker. Fast jeder Song schafft ein Szenario oder eine Szene, die das Albumthema voranbringt und entwickelt. Es tut dieser Art von Songwriting so wahnsinnig, wahnsinnig gut, einen Protagonisten zu finden, der ihr wirklich ein Gefühl von Ehrlichkeit und Dringlichkeit untergeschoben bekommt. Dass dann die Stimmung auch ein wenig zwischen Sounds und Emotionen pendelt, sorgt nur für ein kompletteres Bild seiner Vision.

Nun sollte man eigentlich vermuten, dass die Produktion den klaren Schwachpunkt darstellt, dass Sidos roher Ausbruch von emotionalem Erzählbedarf an der glatten, soften Pop-Akademie-Sülzerei verschwendet ist. So sehr es schmerzt, dieser ganzen Post-Mark-Forster-Songwriting-Camp-Yakuza Komplimente zu machen, habe ich doch noch nie ein Album gehört, auf dem all diese musikalischen Ideen so funktionieren wie hier. Das beste Beispiel ist das elektronisch inspirierte "Irgendwo". Sido baut eine konkrete, handfeste Szene, pflanzt den Part auf eine Fahrt ins irgendwo, Eskapismus frühmorgens auf einer deutschen Autobahn. Das elektronisch-housige-Sample klingt genau wie diese Art von Elektro, die irgendein Radiosender nachts ohne Kommentar oder Moderation spielt, bis die Radio-DJs wieder Schichtanfang machen und genug Kaffee gekocht ist.

Sido kontrastiert diese Kopflosigkeit, dieses latent Seelenlose einer anonymen Deep House-Produktion mit einem Stil, der konfrontativ und wegduckend gleichermaßen ist. Er synergiert damit, dass dieser Sound leer und depressiv klingt. Er baut auf diesen Tatsachen auf. Der Song und seine Flucht-Fantasie klingen tausend Mal tragischer, als sie es auf einer anderen instrumentalen Lösung der Fall gewesen wäre. Man wähnt sich regelrecht mit ihm auf dieser Autobahn: Das Radio mit leichten Empfangsschwierigkeiten und alle zwanzig Kilometer eine Raststätte mit schlechtem Essen und Klo, für das man zahlen muss.

Die elektronischen Elemente funktionieren musikalisch auch gut auf "Medizin" mit Jamule, der wohl wahllosesten Combo hier. Die regelmäßigen Abwechslungen in der Stimmung erlauben ihm, dann in den richtigen Momenten auch mal gänzlich dem Kitsch zu verfallen. Aber mein Gott, kriegt er es spätestens auf dem vorletzten Song "Liebst Du Mich" verkauft. Dieses "do you love me?"-Voice-Sample, das die ganze Zeit durch den Hintergrund donnert gegen den unterschwelligen, unsicheren Beat! Klar ist das Pop. Klar ist das glatt. Aber es fühlt sich so viel ehrlicher an als so vieles, das man sonst im deutschen Pop- oder Rap-Kosmos mitbekommt.

"Paul" ist kein Album, das besonders viel Zynismus standhält. Wenn man denkt, Sido verkaufe hier nur klassische Mental Health-Plattitüden mit einem Vorwand von aufgebauschter künstlerischer Nahbarkeit, dann fallen viele Songs auseinander. Aber wenn es ein Kompliment gibt, das man "Paul" machen muss, dann, dass Sido hier nicht so wirkt, als wolle er irgendwen verarschen. Er klingt von vornherein so, als wolle er jede beschissene Untiefe aus sich herauswühlen, ausbreiten und zur öffentlichen Bewertung bereitstellen. Er wirkt so hungrig, ambitioniert und aufrichtig, wie er es fast noch nie getan hat.

Dieses Album ist eine mitunter schwer auszuhaltende Selbstverstümmelung. Es ist schmerzhaft, aber es ist auch das erste Mal in vielen Jahren, dass Sido daran erinnert, warum er diesen immensen Legendenstatus besitzt. Er wirkt das erste Mal seit "Maske" wieder so, als würde er glauben, dass die Umstände seines Lebens sich dadurch ändern ließen, einen Rapsong darüber zu machen.

Trackliste

  1. 1. Intro
  2. 2. Atmen
  3. 3. Versager
  4. 4. Rollender Stein
  5. 5. Gar Nicht Mal So Glücklich (feat. Estikay)
  6. 6. Unten / Oben (feat. Karen)
  7. 7. Zwischen Den Wolken (feat. Karen & Tarek K.I.Z)
  8. 8. Wenig Königlich
  9. 9. 3 Monde
  10. 10. Medizin (feat. Jamule)
  11. 11. Sterne (feat. Bozza)
  12. 12. Irgendwo
  13. 13. Liebst Du Mich
  14. 14. Mit Dir

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LAUT.DE-PORTRÄT Sido

"S wie der Stress, den du kriegst wenn ich am Mic bin. I wie 'Du Idiot!' Mich zu battlen wär' Leichtsinn. D wie die Drogen, die ich mir täglich gebe.

15 Kommentare mit 32 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Ja das Album wirkt tatsächlich aufrichtig und man merkt an jeder Stelle dass Sido etwas daran liegt. Ich finde das Album trotzdem richtig Scheiße. Soundtechnisch, ja halt wie jedes Sido Album der letzten Jahre. Mein Hauptproblem sind aber die Texte. Sido war nie ein guter Texter aber ich habe das Gefühl von Album zu Album nimmt er immer mehr ab. In meinen Augen kann sich Sido einfach nicht gut ausdrücken. Bei vielen Lines habe ich teilweise gar nicht verstanden was er damit Aussagen will und manche Lines wirken auf Grund der eigenwilligen Artikulation etwas weird. Sido benutzt halt auch Wörter die ich so als Rapper nie verwenden würde. Irgendwo macht ihn seine Art zu texten auch sympathisch aber ändert nichts daran dass ihm dass ganze einfach nicht liegt. Für mich 2/5 weil man merkt was ihm das Album bedeutet aber die Emotionen springen dank Produktion und Texten 0 auf mich als Hörer über.

  • Vor einem Jahr

    Zeitgeistanbiedernder Müll ohne eigene Identität, die Texte schlecht, der Vortrag schlecht, die Beats zwischen Kitsch und Generika, Rollender Stein ist wohl das abgenutzteste Thema für einen Song für den Nachwuchs. Die Radiokompatibilität lauert hinter jeder Ecke. Immer das gleiche Thema. Immer das gleiche Thema.

  • Vor einem Jahr

    Klingt eher nach weichgespültem Radio-Rap-Pop anyone?