laut.de-Kritik

Auch Rapper dürfen weinen.

Review von

"Das ist der beste Track meines Lebens", sagte Sierra Kidd auf und über "Big Boi" von seinem letzten Album "600 Tage". Der Rapper und Gründer des Labels TeamFuckSleep nutzt seine häufig autobiografischen Songs als Therapie und "Big Boi" ist ein Paradebeispiel dafür, das dank des Beats von Jura Kez und Sierra Kidds Flow auch noch wirklich gut klingt. Er erzählt von seiner Kindheit, dem Tod seines Bruders und von den Schwierigkeiten seiner Mutter, sieben Kinder großzuziehen, obwohl sie selbst noch sehr jung war. Vor allem rechnet er auf eindrucksvolle Weise mit seinem Vater ab, dem er häusliche Gewalt vorwirft und bis heute nicht verziehen hat.

Schon zu Beginn seiner Karriere wurde Sierra Kidd, der im Teenageralter Berühmtheit erlangte, mit Lobeshymnen überschüttet und als Wunderkind bezeichnet. Auf einem seiner bekanntesten Songs, dem Drogenkonsum verherrlichenden "Xanny", rappte er "Sober zu sein ist für mich ein Handicap". Sein Gesicht "zieren" zahlreiche vollkommen willkürlich platziert wirkende Tattoos, darunter ein Mond, ein Schwert, ein Herz und ein Logo der Klamotten-Marke Champion. Der Name seines Labels klingt ein wenig wie das Mantra eines trotzigen Bengels, der noch nicht ins Bett gehen will. Wer Sierra Kidd also bislang als Witzfigur wahrgenommen hat, dem wird ein Song wie "Big Boi" helfen, ihn als Künstler ernst zu nehmen und zu respektieren. Auf den besten Track seines Lebens folgt nun mit "NAOSU" ein Album, auf dem er sich an vielen Stellen selbstkritisch und reflektiert gibt.

Sieht man Sierra Kidd dieser Tage in Videos, blickt einem noch immer das selbe zu-tätowierte Gesicht entgegen. Die Augenringe sind noch immer tief, aber seine Worte und Gedanken sind klar. Die Gesichtstattoos würde er sich heute nicht mehr stechen lassen, Drogen lehne er mittlerweile ab. Wie der Rapper erklärt, stamme der Titel des Albums "NAOSU" aus dem Japanischen und bedeute "Heilung für uns alle". Dass Sierra Kidd sein mittlerweile zehntes Album mit einem klaren Kopf angegangen ist, lässt sich auch heraushören. "NAOSU" steckt voller guter Ideen, ansprechender Flows und einer erkennbaren Struktur.

Eine dieser guten Ideen auf dem Album ist zum Beispiel, es mit einem Auszug aus einem emotionalen Interview mit Mike Tyson beginnen zu lassen. Gegen die Tränen ankämpfend erzählt die Boxlegende vom seit seinem Karriereende andauernden Kampf mit sich selbst und von seiner Angst vor bestimmten Auswüchsen seiner Persönlichkeit. Das Zitat als Einstieg auf dem Intro "Mandarin" wirkt passend, auch weil die Parallelen zwischen dem Boxer und dem Rapper über die Gesichtstätowierung hinaus gehen. Beide haben in jungen Jahren Berühmtheit erlangt, beide haben damit sichtlich zu kämpfen gehabt, beide hatten Drogenprobleme und beide haben immer wieder versucht, sich in ihrer jeweiligen Profession zu beweisen.

Eine weitere gute Entscheidung war es, die Produktion der Beats größtenteils consent2k zu überlassen, der vor allem für seine Arbeit für Edo Saiya und Rod Wave bekannt ist. Der junge Produzent war an allen 16 Tracks beteiligt, hat dabei aber teilweise Unterstützung von noch eher Unbekannten wie Stunner und JoelDemora sowie bekannten Namen wie Haze auf "Feuerwerk" (wenn man den Spotify-Credits trauen kann) und Sierra Kidd selbst erhalten. Kein einziger der zeitgemäß und abwechslungsreich klingenden Trap-Beats fällt negativ auf, allerdings ist auch kein Brett wie "Big Boi" dabei.

"NAOSU" zeigt, dass Sierra Kidd die deepen, introspektiven Songs deutlich besser liegen als die vom "Money Machen" handelnden Tracks oder jene, in denen er sich als "fresh2death" bezeichnet, mit seinem Drip flext und gegen andere Rapper austeilt ("Padawan"), auch wenn diese seine nicht zu unterschätzende Raptechnik unter Beweis stellen. Wenn Sierra Kidd von Trennungsschmerz, Enttäuschung und Liebe "Bis In den Tod" rappt, wenn er über sein inneres Monster klagt und die Geister, die ihn verfolgen ("Wann Hört Der Schmerz Auf"), klingt das mittlerweile authentisch und aufrichtig. So wirkt noch nicht einmal das Schluchzen effekthaschend, peinlich oder unangenehm, das in der Mitte dieses Songs deutlich im Hintergrund zu hören ist. Es lässt sich vielmehr als erwachsenes und fortschrittliches Zeichen interpretieren: Weinen ist nichts schlimmes und auch Männer dürfen weinen. Tränen sind kein Zeichen von Schwäche und es gibt keinen Grund, den Harten zu markieren.

Sierra Kidd will überhaupt nicht hart wirken. Das unterstreicht die Geschichte, die hinter seinem Herztattoo unter dem linken Augo steckt. Erzählt hat er diese kürzlich während seines Twitch-Livestreams: In einem Starbucks-Laden habe ihn eine Verkäuferin gefragt, was der Grund für die ganzen Tattoos im Gesicht sei. Anstatt eine Antwort abzuwarten, habe sie ihm gesagt, er könne sich noch so viele Tattoos stechen lassen, hart werde er trotzdem nie sein. Das habe ihn so sehr frustriert, dass er sich daraufhin ein Herz mitten ins Gesicht tätowieren ließ.

Mit negatiiv OG, Freezy TFS und Edo Saiya hat Sierra Kidd drei wenig überraschende Features am Start. Letzterer wird bei finanziellen und Management-Angelegenheit schon seit Längerem vom TFS-Labelgründer betreut. Musikalisch schlägt Edo Saiya in die gleiche Kerbe wie Sierra Kidd, verwendet ähnliche Beats, kommt ebenfalls in den wenigsten Sätzen ohne Anglizismen aus und gibt sich häufig ähnlich, emotional und desorientiert. Während Sierra Kidd wohl als der bessere Rapper von den beiden genannt werden kann, hat Edo den "Sensei", wie Kidd sich selbst in Bezug auf den Newcomer bezeichnet, aber längst überholt, was das Gefühl für Melodien, den Gesang und die Verwendung von Autotune angeht.

Zum Glück verlässt sich Sierra Kidd aber über weite Strecken des Albums auf seine Stärken. Missgeschicke wie der "Falsetto"-Gesangspart auf "Wann Hört Der Schmerz Auf" bleiben die Ausnahme. Der Labelboss ist erwachsen geworden, aus der Verarbeitung seiner Vergangenheit und der Selbstreflexion zieht er mittlerweile Kraft. Er hat mehr gelernt als nur, dass "sober zu sein" kein Handicap ist ("Gecko Moria"). Er gibt sein Wissen weiter und sowohl seine Fans als auch seine Schützlinge wie Edo Saiya oder Cheriimoya sollen von seinen Erfahrungen profitieren: "Ich gab euch Sachen mit, die euch sonst keiner mitgibt / Ich sagte, geh' nicht mal für 50, wenn sie wollen 70 / Ich sag', unterschreib beim Major, wenn die Zeit reif ist / Und die Zeit ist nicht reif, wenn du grad im Hype bist / Ich sag', kauf' dir lieber Eigentum als 30 Uhren / Ich sag', geh lieber für eine Frau als 30 Huren" ("Feuerwerk").

Der Text des darauffolgenden "Weiter" könnte im Duden unter dem neudeutschen Anglizismus "relatable" stehen: "Weiß, es gibt Dinge, die dich ausfüllen, für jedes einzelne Loch im Herz / Weiß, jede Phase ist temporär und die Schlechten gehen schneller, als man denkt / Weiß, dass das alles nicht umsonst ist, weiß, ich werd' keine Fahne schwenken / Weiß, vielleicht ist es manchmal dunkel, weiß, aber irgendwann macht das Sinn / Weiß, auch jedes mal, wenn ich in den Spiegel schau' immer, ich mach mein Ding". Noch eine Schippe emotionaler geht es auf dem etwas an den Sound von XXXTentacion erinnernden "Blessings" zu, das wie viele andere Songs vor allem auf der zweiten Hälfte des Albums voller Durchhalteparolen und Ratschläge steckt: "Denn auch jemand wie du hast jemand, der dich liebt / Oder jemand, der nicht will, dass dir etwas passiert / Und ich meine nicht mal, dass du dir was antust / Sondern einfach, dass du da sitzt und nix tust / Glaub mir, ich kenne diese Tage / Wo man sich nicht fühlt, man will nichts mehr fühl'n / Man will einfach aufgeben oder sich nicht rühr'n / Weil ein'n nichts berührt, aber glaub' mir, steh auf / Mach dir ein'n Plan und dann mach etwas aus dir".

Mit all diesen gelernten Lektionen, seiner Erfahrung und dem hohen Maß an Selbstreflexion könnte man sich nun fragen, warum er dann nicht Songs wie "Xanny" löschen und sich die Tattoos, die er bereut, entfernen lässt. Sie stehen aber für einen Teil seiner Geschichte, für Jahre, die seinen Absturz zeigen, erzählt er in einem Interview. Auch diese Zeit habe ihn zu dem gemacht, der er heute ist, und daher sollte dieser Teil seiner Geschichte nicht ausradiert werden. Eigentlich lieferte der "beste Track seines Lebens" schon die Antwort: "Sie starren mich nur an, wenn sie mich seh'n / Ich hab' wenigstens was zu erzähl'n / Jedes Tattoo, das ich trage, und die Augenringe sagen mir was geht, ich hab' was erlebt".

Trackliste

  1. 1. Mandarin
  2. 2. Money Machen
  3. 3. fresh2death
  4. 4. Padawan
  5. 5. ily consent
  6. 6. Safira
  7. 7. Bis In den Tod
  8. 8. Wann Hört Der Schmerz Auf
  9. 9. Mobile Phone
  10. 10. Feuermelder Aus
  11. 11. Gecko Moria
  12. 12. Feuerwerk
  13. 13. Weiter
  14. 14. Blessings
  15. 15. Forever
  16. 16. Lieb Mich Solang Ich Atme - Bonus

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