laut.de-Kritik

Drei Farben Grau.

Review von

Hmm. Ich weiß gar nicht mehr so genau, was mich an "Kopfvilla" damals auf den schmalen Pfad gelockt hat, Sierra Kidd könne auf einem Album in voller Länge möglicherweise zwei, drei weitere Facetten zeigen. Oder doch wenigstens eine. "Nirgendwer" erstickt diese Hoffnung gründlich.

Seine Entdecker - Ex-Freunde von Niemand-Strippenzieher Hadi El-Dor und RAF Camora, auf dessen Label Indipendenza der junge Ostfriese Obdach gefunden hat - haben jedenfalls ganze Arbeit geleistet. So ausdauernd priesen sie ihren Schützling allüberall als "Wunderkind", "kompletten Rapper" und überhaupt das nächste große Ding an, dass man es fast schon geglaubt hat.

Sierra Kidd selbst scheint die Dinge ein klein wenig realistischer zu sehen: "Wir sind 16 und tun, als ob wir erwachsen wären", trifft er in "Whatsapp" einen Nagel auf den Kopf. Kinder, ganz ohne Wunder, wohlgemerkt. Daran ist ja auch überhaupt nichts Schlimmes, schließlich handelt es sich bei Jugendlichkeit (wenn überhaupt) um ein Problem, das sich mit fortschreitender Zeit von selbst erledigt.

In Sierra Kidd steckt ohne Frage ein talentierter Rapper, der auch gehobene Ansprüche an Technik mühelos erfüllt. Er zeigt beeindruckendes Gespür für Metrik und Rhythmus. Sein Flow bleibt über weite Strecken interessant, seinem äußerst schmalen Themen- und Gefühlslagenspektrum zum Trotz. Womit wir, um es mit den Worten Walter Whites zu sagen, das Problem auch bereits identifiziert hätten.

Zwischen dem Opener "Sierra" und dem Abspann "Kidd" stecken nicht Rosa, Lila, Pink, sondern allerhöchstens drei Farben Grau. Von der ersten Zeile an - "Fühlt sich so an, als wär' ich nirgends" - suhlt sich Sierra in seinem Elend, dass es einem spätestens nach dem vierten Track fontänengleich aus den Ohren quillt. In der alles ersäufenden desillusionierten Melancholie finden einzig homöopathische Dosen juvenilen Trotzes ein Plätzchen. Hin und wieder, viel zu selten. Enttäuscht, gemobbt, unverstanden, ungeliebt, verlassen fühlt sich Sierra Kidd offenbar, verbarrikadiert sich einsam und allein in seiner frostigkalten Kopfvilla und - Überraschung! - friert.

Ich schrieb es schon einmal, auf Albumlänge springt einem dieser Eindruck nun noch direkter ins Gesicht: Sierra Kidd wirkt, gerade, wenn er leiernd gesungene Passagen einbaut, wie der tragische Zwilling von Cro, der personifizierte Gegenentwurf zu dessen Happyhappy-Joyjoy-Attitüde. "Doch ich fühle nichts", allenfalls: "Ich und meine Leute, wir hassen alles.". "Du behandelst mich wie Scheiße, wenn das so weitergeht, schmeiß' ich mich noch auf die Gleise." Alles unerfreulich un-easy, im Sierraschen Splittermeer.

Für seine Gemütslage kann man ja nix, für ziel- und entsprechend antriebsloses Verharren im Sumpf allerdings sehr wohl. "Ich glaube nicht, dass ich den Status 'glücklich' verdient hab'." Mit dieser Einstellung dürfte sich daran schwerlich irgendetwas ändern. Einem traurigen Teenager möchte man das eingeschränkte Sichtfeld gar nicht unbedingt vorwerfen. Unter einem "kompletten Rapper" verstehe ich trotzdem etwas anderes als jemanden, der nur eine einzige Tonlage im Griff hat.

Schade, dass sich die alten, erfahrenen Hasen, die ihm zur Seite stehen, darauf beschränken, die herrschende Melancholie zu illustrieren, statt neue Horizonte zu eröffnen. Ziehvater RAF Camora kümmert sich um einen Großteil der Produktionen. Die liefern handwerklich keinen Anlass für Kritik. Schleichend, fast unmerklich, entwickeln seine Beats eine komplexe Dramatik, die erst in ihren Bann und dann mit hinab in den Abgrund zieht. Das Problem nur: Wir landen immer im gleichen Loch.

Spätestens bei "XO" - das, sich wie auch "Signal", schon auf "Kopfvilla" fand - beschleicht mich das fatale Gefühl, jetzt zum drölften Mal denselben Beat präsentiert zu bekommen. Zwar klingelt mal ein Spieldosenglöckchen, mal schieben sich ein paar Drum'n'Bass-Elemente ins Bild, es ertönen Akustikgitarre, Klavier oder Streicher. Da die Grundstimmung aber immer und immer dieselbe bleibt, lösen sich solche Details in der alles verschlingenden grauen Masse auf.

Die beiden Featureparts von RAF und Prinz Pi bringen ebenfalls keine Farbe ins Bild. Zwar sprengt "Ich Sah Ihn Noch", der Track mit letzterem, als einziger die engen Grenzen der ansonsten strikt auf Sierra Kidds eigene Befindlichkeit gerichteten Wahrnehmung, bietet sogar so etwas wie Storytelling. Auch hier gestaltet sich der Plot aber dermaßen lebens-unfroh und freudlos, dass es kaum einen Unterschied macht. "Schuss, Schuss, Schuss, tot." Pis Part erscheint zudem so krampfhaft gewollt intellektuell, als habe er die verwendeten Vokabeln nur um ihrer selbst, nicht um des Inhalts Willen gewählt.

"Man merkt: Ich bin noch ein Kind", schließt "Kidd" den trüben Kreis, und es mutet fast wie eine Entschuldigung an. Kopf hoch, Junge! Alles wird besser, irgendwann. Versprochen. Wie sich das dann bei Sierra Kidd anhört - darauf bin ich, auch wenn ich von dieser Platte die Schnauze gestrichen voll habe, immer noch schwer gespannt.

Trackliste

  1. 1. Sierra
  2. 2. Whatsapp
  3. 3. Nirgendwer
  4. 4. Knicklicht
  5. 5. Amor's Headshot
  6. 6. Ich Sah Ihn Noch feat. Prinz Pi
  7. 7. Welle
  8. 8. 20.000 Rosen
  9. 9. Splittermeer
  10. 10. Strom feat. RAF Camora
  11. 11. XO
  12. 12. Signal
  13. 13. Mobile
  14. 14. Gift
  15. 15. 540 KM
  16. 16. Kidd

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