laut.de-Kritik

Vier Besessene legen den Post-Rock-Grundstein.

Review von

Ein Album wie ein Fiebertraum: Mit ihrer zweiten LP "Spiderland" entwerfen Slint 1991 die Blaupause für den modernen Post-Rock und beeinflussten auch genreübergreifend Generationen von Künstlern. Ebenso brachial wie fragil, explosiv und zugleich hypnotisch mischten die vier jungen Männer aus Louisville, Kentucky ihre rohen, aber extrem ausgefeilten Sound zwischen Hardcore-Exzessen und synkopischen Rhythmen zusammen. Als ihr Mammutwerk erschien, konnten die Mitglieder von Slint jedoch nur dabei zusehen, wie ihre Musik in den Jahren darauf die alternativen Rockszenen unterwanderte. Die Band hatte sich vor der Veröffentlichung bereits aufgelöst.

"Spiderland" erzielte seine hohe Durchschlagskraft also ganz ohne Pressemitteilungen, Promotermine, Interviews oder gar Live-Auftritte, die Slint schon vor diesem Album rar gesät hatten. Einzig die Produzenten-Koryphäe Steve Albini verfasste zum "Spiderland"-Release eine Rezension für das britische Musikmagazin Melody Maker. Sein Fazit: "(...) Spiel' die Platte und ärgere dich, wenn du sie nie live sehen konntest. In zehn Jahren wirst du wie der Schwanzlutscher, der du bist, lügen und sagen, du hättest es doch."

Albini, der vier Jahre zuvor Slints eher unausgegorenes Debütalbum "Tweez" produziert hatte, bewies mit der Kritik seine musikalische Weitsicht, denn er sollte Recht behalten, als er den großen Einfluss von "Spiderland" auf kommende Bands in den nächsten Jahren prognostizierte. Außerdem kann dieser Mann wohl nicht nachtragend sein. Als Albini einmal länger verreiste, bekam Slint-Schlagzeuger Britt Walford die Aufgabe, auf sein Haus aufzupassen. Walford sperrte sich aus, trat die Tür ein und verrammelte sie wieder mit Nägeln. Zudem überflutete er das Bad, so dass Wasser von der Decke in Albinis Kellerstudio leckte.

Diese Anekdote, die The Jesus Lizard später mit ihrem Song "Mouth Breather" intonierten, steht stellvertretend für die schräge Attitüde von Slint. Sie waren komische Vögel, die mit ihren merkwürdigen Ideen selbst in der Hardcore-Szene von Louisville für Stirnrunzeln sorgten. Walford und Gitarrist und Sänger Brian McMahan lebten ihren Insider-Humor seit der Grundschule zusammen aus. In der Hardcore-Band Maurice entwickelten sie Mitte der 80er zusammen mit dem Gitarristen David Pajo so wirre Songstrukturen, dass der Rest völlig überfordert zurückblieb.

Bei den Sessions zu "Spiderland" gipfelte der leichte Wahnsinn schließlich in sechs sperrigen Song-Biestern, die Slint nicht geschrieben, sondern heraufbeschworen haben. Da bis auf McMahan alle Mitglieder aufs College gingen, kam die Band 1990 in den Semesterferien im Keller des Walford-Elternhauses in Louisville zusammen, wo sie sich manisch verbarrikadierte. Stundenlang kreiste durch den Raum ein immer gleiches Riff, auf das die Besessenen ihre Ideen schichteten.

Der Titel "Nosferatu Man" mit seiner Bassdrum in die Magengrube und der Gitarre, die kreischt wie der namengebende Graf beim ersten Sonnenlicht, hat nicht nur des Titels wegen den Anschein eines okkulten Hexentanzes. Über die morbide Redundanz des Riffs wispert McMahan seine Gruselgeschichte und bricht in den Gitarrenexplosionen in wehleidiges Schreien aus. Das Spoken-Word-Flüstern untermalt den akustischen Horrortrip auf eindringliche Weise.

Dabei war McMahans Gesang für die Band eher eine Notlösung, die sie am Ende der zweitägigen Produktion auf die fertigen Songs legte. Ihr Selbstverständnis als instrumentale Band zeigte sich in einem Aufruf auf der Rückseite der Platte. Sängerinnen sollten doch bitte an die Walford-Adresse schreiben. In der Slint-Dokumentation "Breadcrumb Trail" des Regisseurs Lance Bangs witzeln Walfords Eltern darüber, dass sich ja möglicherweise eine Nachricht von PJ Harvey unter den ungeöffneten Einsendungen befinden könne.

Slint brauchten Harveys Kaliber aber nicht, um auf "Spiderland" die Vocals in den gewaltig-zerbrechlichen Sound fließen zu lassen. McMahan setzte sich für die Aufnahmen in die sommerliche Bullenhitze des Autos, das vor der Walford-Garage stand, und nahm seine düsteren Erzählungen auf ein Vierspur-Tonbandgerät auf. So entstanden Kurzgeschichten von getriebenen Seelen, die sich mal mit einer Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt verlieren ("Breadcrumb Trail") oder romantischen Schiffbruch erleiden ("Good Morning, Captain").

Zum Zeitpunkt dieser Aufnahmen befand sich McMahan geistig an einem dunklen Ort. Zuvor war er bei einem schweren Autounfall beinahe ums Leben gekommen, als die Band den "Spiderland"-Produzenten Brian Paulson in Chicago besuchen wollte. Was diese Nahtoderfahrung in ihm auslöste, lassen die beklemmende Performance und seine Texte erahnen. Nach der Fertigstellung von "Spiderland" ließ sich McMahan in eine psychiatrische Klinik einweisen.

Musikalisch ebneten Slint Wege, die zuvor keine Band betreten hatte. Der Opener "Breadcrumb Trail" verquickt klirrende Riffs und klare Gitarrenmelodien mit einem schleppenden Rhythmus, der immer wieder aufbricht und Risse in den Song schneidet. Der ekstatische Refrain, in dem die Gitarre zum Fliegeralarm aufheult, bildet dabei einen enorm hohen Kontrast. Hardcore? Schon irgendwie, aber zerbrechlicher. Mathrock? Sicher, aber lakonischer.

Vor allem kreierten Slint auf "Spiderland" mit ihrem einzigartigen, tighten Stil eine Post-Rock-Vorlage, die sich noch viele Bands zu Herzen nehmen sollten. Das infernalische Finale von "Washer", das einen Feuersturm auf die vorherrschende Melancholie hereinbrechen lässt, haben sich etwa Mogwai für ihr Debütalbum "Young Team" ganz genau angehört. Das Spiel mit Laut und Leise, das den Sound der Schotten definiert, haben Slint in dieser Form entwickelt.

So steigert sich auch "Don, Aman" von einem paranoiden Gedankenstrom zu einer Hetzjagd, in der McMahans Protagonist Don mit seiner geistigen Gesundheit ringt. Komplett ohne Schlagzeug treiben immer garstiger werdende Gitarren Dons soziale Ängste in die Höhe, was auch beim Hörer unweigerlich Unruhe und Beklemmung auslöst. Ebenso klaustrophobisch stapft "Good Morning, Captain" durch ein metaphorisches Schiffswrack, das mal eine Beziehung war. McMahans herzzerreißendes "I miss you" schneidet in diesem Abgesang zusammen mit den Gitarren tief ins Fleisch.

Diese vier jungen Männer, deren Köpfe auf dem Albumcover aus einem Baggersee ragen, haben auf "Spiderland" innerhalb weniger Tage einen dichten Sound erschaffen, der sich wiederum kaum fassen lässt. So getrieben, dass sie bei diesem Prozess fast selbst in den Wahnsinn abgedriftet wären. Kurz vor der Veröffentlichung hat McMahan hingeschmissen; er sah das Gleichgewicht zwischen Aufwand und Belohnung in der Band nicht mehr.

Dass das Album nicht in einem lokalen Plattenladen verstaubte, lag ausschließlich an der Mundpropaganda von Fans, die "Spiderland" umhaute. Die mussten über ein Jahrzehnt warten, bis Slint 2005 wieder für kurze Zeit zusammenfanden und ihr Meisterwerk erstmals live spielten. Die Qualität dieser viel zu kurzlebigen Band aber steht für sich. Nur als Housesitter taugen sie überhaupt nichts.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Breadcrumb Trail
  2. 2. Nosferatu Man
  3. 3. Don, Aman
  4. 4. Washer
  5. 5. For Dinner...
  6. 6. Good Morning, Captain

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Slint – Spiderland €14,99 €3,00 €17,98

Videos

Video Video wird geladen ...

9 Kommentare mit 13 Antworten