laut.de-Kritik

Plötzlich wirkt Schlager clubbig und modern.

Review von

Sonia Liebing hat sich in den letzten Jahren zur festen Größe im modernen Pop-Schlager entwickelt. Mit "Ganz nah bei mir" schlägt sie eine Brücke zwischen klassischem Herzschmerz-Schlager und clubbigen Beats. Dabei schafft sie mit Deep House- und Techno-Versatzstücken einen Sound, der sich vor eher altmodischerer Schlager-Konkurrenz nicht zu verstecken braucht.

Liebings Album ist nicht frei von Kitsch und Klischees, aber im Rahmen des Genres klingt das ordentlich. Außerdem hat sie Gesangstalent: Ihr stimmlicher Spielraum ist zwar nicht riesig, aber das macht sie problemlos mit guter Technik wieder wett – das klingt schon ganz solide, was sie da ins Mikrofon schmettert. Klar ist's meistens trotzdem schrecklicher deutscher Schlager, inhaltlich wie musikalisch. Jedoch: Liebings sehr gute Stimme, ihr frischer Wind im Schlagerversum, moderne Genre-Ideen und der spürbare innovative Schaffensdrang gleichen die inhaltlich teilweise wirklich schwachen Texte wieder aus, was "Ganz nah bei mir" zu einem mittelmäßigen Album macht. Für Schlager-Verhältnisse ist das wirklich sehr gut.

Der Titeltrack gibt zu Beginn die Richtung vor: autobiografisch inspiriert, hymnisch und wie im gesamten Album üblich irgendwo zwischen Schlager, Mainstream-Pop und Techno-Beat. "Ich stand vor dem Spiegel, schon als kleines Kind, wollt' auf große Bühnen, das Fieber spüren, wollte singen." Es geht um das Sich-Finden im Leben (an Liebings Beispiel in der Musik bzw. durch die Musik), um das Aufgehen in einer Leidenschaft. Man nimmt ihr ab, wenn sie leidenschaftlich singt "Heut' bin ich ganz nah bei mir" und "das soll nie mehr anders sein". Für die Zuhörer*innen gibt's noch mutmachende Worte zur Selbstverwirklichung: "Glaub an dich, denn du wirst es sehen – das, was du träumst, das, was du willst, das wird geschehen!" Inhaltlich einer der mit Abstand stärksten Songs.

Stark ist auch "Tausend Gründe", ein lebensbejahender Tanz-Song mit schmissigem Drop, der auf melodischen Eskapismus setzt: "Lass uns einfach leben!" In Zeiten wie diesen fast schon ein kleines Manifest: "Brauchst du 'nen Grund für die Liebe? Brauchst du 'nen Grund, um nochmal verrückt zu sein? Ich geb dir tausend Gründe und schwör dir, du bist nie allein!" Wenn Liebing mit ihren optimistischen Messages auch nur eine Person positiv beeinflusst, hat ihr Album schon mehr erreicht als viele andere der letzten Jahrzehnte. Besonders spannend bei diesem Song ist übrigens die zusätzliche Piano-Version, die aus dem Elektro-Schlager-Hit eine gefühlvolle Ballade macht – plötzlich klingt das mehr nach Singer-Songwriter-Indie als nach Schlager. Liebing stellt dabei ihr volles Gesangstalent unter Beweis – das klingt wirklich richtig gut.

Natürlich gibt es auch schwächere Momente. Die 2025er-Version von "Jugendliebe" bleibt textlich so dünn und musikalisch austauschbar wie schon 2019 im Original. Zumindest singt Liebing ihren wohl bekanntesten Hit in der Neuauflage stilistischer ansprechender, dennoch wäre ihr Album ohne diesen Song besser gewesen. Auch "Sag ihr nichts von mir" und "Nein, Baby" sind mit ihrer klassischen Herzschmerz-Dramatik handwerklich ordentlich geraten, aber wenig aufregend. Mittelmaß eben.

"Komm und tu's" bietet überraschend viele elektronische Elemente, die den für Schlager typischen Liebes- und Leidenschaftstext untermalen: "Komm und tu's. Für uns beide gibt's kein Tabu." Inhaltlich vorhersehbar, musikalisch aber solide genug, um in einer Schlager-Playlist nicht negativ aufzufallen – kann man hören! Beim klassischen Herzschmerz-Schlager mit viel Pathos, gehörig Drama und wenig Überraschung bleibt's auch bei "Ich wünsche dir". Ein sauber produzierter, aber austauschbarer Track, der den Albumfluss eher trägt, als dass er eigene Akzente setzt. "Wer einmal liebt" schlägt in dieselbe Kerbe. Schlager zum Mitschunkeln, stabil gesungen, ordentlich produziert – aber ohne den Funken, der das Lied über das große Feld an Konkurrenz heben würde.

Interessanter wird es, wenn Liebing die Genregrenzen noch stärker ankratzt. "Können diese Augen lügen" überrascht mit jungeligem Breakbeat-Intro und einem Melodiebett, das eher an House-Rave als an Schlager-Flair erinnert. Plötzlich wirkt Schlager clubbig und modern – zumindest musikalisch, vom Text her nicht ganz. Auch "Wo zur Hölle" profitiert von treibenden Beats, die ohne Gesang in einer EDM-Playlist landen könnten. Textlich ist auch dieser Track wieder sehr viel klassischer Schlager, was streckenweise beim Zuhören durch die fehlende Tiefe fast wehtut. "Mach dich groß" dagegen ragt mit motivierendem Text und Liebings starker Gesangsleistung heraus – einer der Songs, die ihr Talent am besten zeigen: "Mach dich groß, lern zu fliegen, wenn du mal fällst, dann fang ich dich auf, werd dich für immer lieben". Dazwischen gibt es mittelmäßig solide Album-Füller wie "Danke lieber Engel" oder "Dass wir uns wiedersehen", die ohne große Akzente durchlaufen.

Ganz schrecklich finde ich persönlich dann "Alles erlaubt": Hier wurde ein eingängiger Melodie-Baustein aus Lipps Inc.s "Funkytown" absolut deplatziert gesampelt – ein klanglicher wie rhythmischer Fremdkörper, der nach Label-Kalkül klingt (à la: "Die Leute müssen in den ersten drei Sekunden was Bekanntes hören!") und dem Song mehr schadet als nutzt. Das hätte echt nicht sein müssen.

Unterm Strich liefert Sonia Liebing ein Album, das für Schlager erstaunlich frisch wirkt. Klar: Es gibt viel Herzschmerz, viel Wiederholung, zu viel seichten Kitsch. Textlich durchschnittlicher Schlager eben. Aber die musikalische Gesamtmischung aus clubbigen Beats, starkem Gesang und einigen spannenden Songideen baut "Ganz nah bei mir" ein stabiles Fundament. Am besten ist der Techno-Pop-Schlager-Sound aber, wenn man nicht zu viele Songs nacheinander abspielt, denn beim Durchhören des gesamten Albums wirken die Songs irgendwann doch recht ähnlich und monoton.

Liebings neues Album ist absolut kein Meisterwerk, aber im eigenen Genre ordentlich. "Ganz nah bei mir" zeigt, dass moderner Schlager mehr kann, als gefällige Radiomusik für ein Rentnerpublikum zu sein.

Trackliste

  1. 1. Ganz nah bei mir
  2. 2. Sag ihr nichts von mir
  3. 3. Tausend Gründe
  4. 4. Nein, Baby!
  5. 5. Können diese Augen lügen
  6. 6. Mach Dich groß
  7. 7. Danke lieber Engel
  8. 8. Komm und tu's
  9. 9. Das wir uns wieder sehen
  10. 10. Alles erlaubt
  11. 11. Ich wünsche Dir
  12. 12. Wo zur Hölle
  13. 13. Wer einmal liebt
  14. 14. Tausend Gründe (Piano Version)
  15. 15. Jugendliebe (2025 Version)

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