laut.de-Kritik
Modernes File-Sharing gehört wohl zum guten Ton.
Review von Erich RenzMurray Lightburn muss den Maskenball lieben. Mindestens genauso gern muss man daher seinen Referenz-Stadel mögen. Bei fast jedem der vierzehn Lieder auf "Degeneration Street" kann man sich ein anderes Original als "The Dears" vorstellen – doch das, was den anderen vergönnt blieb, haben sie sich zu eigen gemacht: Sie sind ein perfektes Faksimile, die gelungene Blaupause oder sogar ein sinniges Eigenwerk.
Im inneren Kreis der Band hat Lightburns Rochade bisweilen schon viele Opfer gefordert. Eigentlich geht seine Bestimmung auch eher in Richtung Personalunion. Ähnlich, wie Dylan die Frage abwatscht, warum er keinen besseren Tour-Keyboarder als sich selbst findet und rundheraus sagt, es gebe nunmal keinen geeigneteren als ihn – so müsste sich der Alleskönner der Dears fühlen. Nur, dass man die anderen doch irgendwie braucht.
Und ganz, wie es die Aktualität fast schon diktiert, besprach man alle Bandinternas in "Degeneration Street" per MP3-Files. Dateien wurden an manchem Ort komprimiert durchs Netz gejagt und an anderer Stelle heruntergeladen. Kanye West würde abwinken und sagen, dass es sich hierbei um kein besonderes Vorkommnis handelt. Schließlich geht es ja ums 21. Jahrhundert - und da wird einem erst warm ums Herz, wenn die Tauschbörse gelingt.
Von allen Datenstrapazen - das Ergebnis waren 150 Gigabyte Musikmaterial - erholt, ist es also erschienen, das fünfte Album der momentan sechsköpfigen Großgruppe. Und es findet sich gut zurecht in dem mächtigen Hahnenkampf, den Rock und Soul da austragen.
Gleich in "Omega Dog", dieser TV On The Radio-nahen Offerte steckt so viel 'Zurück' wie 'Zukunft'. Es ist ein Klang, der das blühende 60er-Motown ebenso vertreten könnte, wie ein aufgekauftes Indielabel von gestern. Moderner Retro, der den Anschein von Extravaganz andeutet, aber nicht bestätigt. An der Stelle müsste ein Gefällt-mir-Button auf diesen ersten Song gepresst werden.
Beim Melodiefänger "Blood" glaubt man kaum, dass es möglich ist, aus einem Muse-Song ein "I Was Made For Loving You" zu machen. Nicht nur Bruce Springsteen konnte das mit Kiss, als er sich bei seinem "Outlaw Pete" an dem scheinbar lebensnotwendigen Refrain vergriff. Wie sich hier zeigt, gehört modernes File-Sharing wohl zum guten Ton unter Musikern.
Die 90er, schließlich die Zeitspanne, in der die Dears aus der Taufe gehoben wurden, sind ein Zeitraffer, dessen Vergangenheit nochmal aufgehen darf – meint Murray Lightburn und mimt den Jarvis Cocker im Stück "Thrones". Sein tiefer sonorer Bariton kann von berauschendem Umfang sein, wenn er sich, wie in der Zeile "We can't go through this again", brüskiert.
Dass Talk Talk leider schon vorbei sind, erinnert "Lamentation". Es bestätigt auch das schrankenlose Potpourri der Dears.
Weshalb man ihnen leider keinen Blankoscheck für allgemeines Gelingen ausstellen darf, ist der Leistungsabfall ab der Hälfte der Laufzeit. Von da an sind besonders die zähen Nachfolgetitel nicht vor Langatmigkeit gefeit. So geht man Track-by-Track weiter, die "Degeneration Street" wird immer länger und man weiß nicht wohin - am Besten zurück zum Anfang, dort kennt man sich aus.
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