laut.de-Kritik

Jessas und Maria, die gibt es immer noch!

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1990 eröffneten die damals noch recht unbekannten Nine Inch Nails – Richard Patrick von Filter war noch Gitarrist – für die Szenegroßmeister The Jesus and Mary Chain, die schon mit ihrem Debüt "Psychocandy" 1985 Gold im Vereinigten Königreich einfuhren. 1990 waren sie Götter, ihr stärkstes Album "Automatic" war vor einem Jahr erschienen. Von Cobain bis Sonic Youth bezogen sich viele junge Klassebands auf Jim und William Reid.

Aber während Trent Reznor und seine Kumpanen durchstarteten, war den Reid-Brüdern als kreatives Zentrum von The Jesus and Mary Chain ein anderes Schicksal bestimmt. Ewig eine "band's band", verdiente man in den goldenen 90ern zwar mehr als genug, nach Grunge – den sie teils vorwegnahmen, ebenso wie Shoegaze - verloren The Jesus and Mary Chain aber ihre popkulturelle Vorreiterstellung. Sie wurden zu einer weiteren 90er-Alternative-Band mit Legendenstatus, bis es 1998 zum großen Knall zwischen den Reids und erfolglosen Soloausflügen kam.

Nachdem die Reid-Brüder aber schon Mitte des vergangenen Jahrzehnts wieder begannen, miteinander zu reden und aktuell sogar ein zweites Comeback-Album planen, zeigten sich die neuen Kräfteverhältnisse: 2018 eröffneten The Jesus and Mary Chain für Nine Inch Nails. Zwei dieser Konzerte, beide im Hollywood Palladium in LA, ergeben das Live-Album "Sunset 666". Auf Vinyl findet sich auf den Seiten A bis C die komplette Show vom 15. Dezember, auf D ein Teil der vom 11. Dezember. Natürlich ist ein solches Live-Album eine Art Best Of, deshalb auch die relativ lange Einführung. Alle Alben der Gruppe finden sich hier versammelt, also auch das zumindest ordentliche Comeback-Album "Damage And Joy" von 2017.

Die Songs kennen wir also, aber das macht "Sunset 666" insofern nicht weniger interessant, als die Tracks der beiden Briten nicht unbedingt in großer Würde gealtert sind. Die Produktion der meisten Alben könnte man wohlmeinend als "zeitgemäß" bezeichnen und "Live From Barrowland" aus 2015, erst letztes Jahr remastered erschienen, hört sich an wie mit dem Handy aufgenommen. Der Reiz am Neuentdecken des Werks ist also durchaus vorhanden.

Freudig entgegnet dem Hörer Mark Crozers satte Kickdrum auf dem Opener "Just Like Honey", und Jim Reid war selten besser zu verstehen. Auch ein zweiter Trend zeichnet sich ab: Justin Welchs Bass ist im Mix recht weit vorne, was nicht schadet, da der Mann nicht zufällig bei Lush und Suede mitspielen durfte, tatsächlich nicht zu Lasten von William Reids und Scott Von Rypers schneidenden Gitarren geht und "Sunset 666" ein merkliches Live-Feeling verpasst. Das passt zur Entstehungsgeschichte, weil es sie etwas ausgleicht: Soundingenieur Michael Brennan stöpselte seinen Laptop eher aus Eigeninteresse in die Mixkonsole, deshalb fehlt das Publikum zumeist und die Band nahm mit ihren Pausen, die etwas ungelenk herausgeschnitten werden mussten, keine Rücksicht auf die Aufnahme.

Isobel Campbell gastiert auf den nächsten beiden Tracks (weshalb auch diese Show unter den sechs Shows in LA ausgewählt wurde), leider harmonieren sie und Jim Reid so dermaßen überhaupt nicht, dass vor allem "Sometimes Always", im Original mit Hope Sandoval, als auch "Black And Blues", mit Sky Ferreira, sich stellenweise nach Inas Nacht im NDR nach einigen Korn zu viel anhören. "Amputation" macht das mit viel Wucht wieder wett, schon auf "Damage And Joy" ein Standout-Track, der live noch mal viel gewinnt.

Für "All Things Must Pass" fehlt es Jim zumindest in dieser Aufnahme an Stimmvolumen, um gegen die Wall of Sound anzukommen, "Head On" krankt ebenfalls daran, dass Jim vor allem bei schnelleren Passagen kaum hinterherkommt. Seine altersbedingt mit mehr Timbre versehene Stimme kann er auf den ruhigen Passagen des Klassikers "Some Candy Talking" deutlich besser ausspielen. Wie auch beim Opener fällt auch bei diesem Klassiker auf, dass The Jesus And Mary Chain zum Schluss hin ruhig etwas mehr die Sau hätten rauslassen können. Werktreue in allen Ehren, aber bei einem Liveset vor wohlmeinendem Publikum wäre mehr drin gewesen.

"The Living End" ("Psychocandy") und "Cracking Up" ("Munki") machen es besser. Das eine ein hingerotzter Punkklassiker, das andere mit so viel Fuzz versehen, das gerade in LA Einige im Publikum gemerkt haben werden, wo Thee Oh Sees und Konsorten manche ihrer Ideen herhaben. Klare Albumhighlights, auf die mit "Teenage Lust" der nächste Bandklassiker folgt, den Jim mit der richtigen Menge Laszivität garniert und der zeigt, wer zu Zeiten von "Honey's Dead" im Shoegaze die Hosen (oder Schuhe) anhatte. Alle drei Tracks sind hier in ihrer wohl besten Version zu finden und allein dafür gebührt "Sunset 666" Lob, bevor das doofe "I Hate Rock'n'Roll" die Kurve nicht bekommt. "Reverence" beschließt das Konzert mit über neun Minuten, erneut tauchen die Briten tief ein in den Shoegaze von 1992. Ursprünglich nur dreieinhalb Minuten lang, findet sich hier samt Bass, der bis in die Kniescheiben geht, die unwiderruflich beste Version dieses Genreklassikers. Jim fährt zu Hochform auf, wenn er "I wanna die" skandiert. Gänsehaut garantiert, keine Sekunde zu lang.

Wir kommen zur Show vom 11. Dezember, bestritten größtenteils mit Songs von "Automatic", dem vermutlich besten Album der Band. "Blues From A Gun" profitiert jedoch kaum von der Live-Interpretation, der Indie-Sound des Songs kommt etwas flach rüber. "Far Gone And Out", als einziger Track der D-Seite nicht von "Automatic", sondern "Honey's Dead", ist ordentlicher Bandstandard. Auf "Between Planets", "Halfway To Crazy" und "In A Hole", eigentlich mit die besten Songs im Kanon der Reids, zeigt sich wie schon vorher, dass Jim die Dynamik für die schnellen Songs abhandengekommen ist.

Der Shoegaze passt aber noch wie angegossen und man kann kaum anders, als Sympathie für diese musikhistorisch bedeutende Band zu empfinden. Das macht "Sunset 666" aber stellenweise eher interessant als gut anzuhören.

Trackliste

  1. 1. Just Like Honey
  2. 2. Sometimes Always (feat. Isobel Campbell)
  3. 3. Black and Blues (feat. Isobel Campbell)
  4. 4. Amputation
  5. 5. All Things Pass
  6. 6. Some Candy Talking
  7. 7. Head On
  8. 8. The Living End
  9. 9. Cracking Up
  10. 10. Teenage Lust
  11. 11. I Hate Rock ‘N’ Roll
  12. 12. Reverence
  13. 13. Blues From A Gun
  14. 14. Far Gone And Out
  15. 15. Between Planets
  16. 16. Halfway To Crazy
  17. 17. In A Hole

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