laut.de-Kritik
Das Potential scheint grenzenlos, aber der letzte Feinschliff fehlt.
Review von Jeremias HeppelerDer erste Song heißt "Benzin" und tönt uns zunächst schummrig, mysteriös, doppelbödig, dann kraftvoll, scheppernd, hymnisch entgegen. "Mein Chaos steht in Flammen und ich mit einem Drink daneben / Schau' Glut beim Fliegen zu und Reflektiere das Leben / Alle Gedanken fangen Feuer, brennen ab, was bleibt bist du." Bereits die ersten Sekunden und Zeilen von "Vernunft, Vernunft" markieren eine massive Ernsthaftigkeit, die zumindest im Opener beinahe zu gewollt und zu verbissen daher klingt.
Wir alle wissen, wie schwierig es ist, die deutsche Sprache in authentischen und ernsthaften Lyrics einzusetzen und wie selten genau dieses solches Unternehmen in der Vergangenheit wirklich aufging. Denn die Gefahr, sich in Pathos zu verstricken ist allgegenwärtig. Doch Hauer zeigt keine Angst, textet mutig und klar, ohne große Gesten und ohne Schnickschnack und vor allem (zum Glück!) ohne Augenzwinkern. Das ist aller Ehren wert. Dazu schwingt sich "Benzin" zu einem elektronischen und eingängigen Powerpopstück auf – wobei man auf das vor sich hin jodelnde Gitarren/ Panflötensolo zum Ausklang getrost hätte verzichten können.
Mit "Uns Hat Keiner Gefragt" schiebt Tiemo Hauer dem da doch anklingenden Pathos aber direkt den Riegel vor und räumt stattdessen seiner leicht verzerrten Stimme massiven Raum ein. Das Stück nimmt konzentriert wie eine Tütensuppe immer mehr Fahrt auf, dreht sich und dreht sich immer schneller, ehe es im Stile einer Jahrmarktsattraktion in einer instrumentalen Explosion auseinander bricht. Oha! Und hier bricht Hauer massiv mit den Erwartungen, legt klassische Radio-Songstrukturen der Marke Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Bridge-Refrain ad acta und folgt seinem eigenen Antrieb und Instinkt. Das klingt modern, groß, amerikanisch.
Doch der nächste Bruch folgt auf dem Fuß: "Der Kleine Tod" ist eine merkwürdige Punkrock-Nummer, die für zwei Minuten und 24 Sekunden vor sich hinscheppert und irgendwie merkwürdig konventionell getextet ist: "Du bist mein Abendrot, mein kleiner Tod, die personifizierte Atemnot. In dir will ich untergehen und als besseres Wesen wieder auferstehen." Ein echter Ausreißer nach unten. "Funktionieren" im direkten Anschluss zeigt dann umgehend wieder die nächste Kehrseite der Medaillenlandschaft, wirkt zerbrechlich, mehrschichtig, nachdenklich, wie der Soundtrack zu einem Berliner Coming-Of-Age-Melodram: "Man sind wir alle groß geworden, keine eigene Bar und auch nicht jung gestorben."
Und zu diesem Zeitpunkt offenbaren sich gleich mehrere Erkenntnisse: "Vernunft, Vernunft" will alles. Und zwar gleichzeitig. Es gibt hier keinen klaren, homogenen Stil. Hauer, der sich später auf der Platte als Freund von Nostalgie charakterisiert, tobt sich aus, reiht eine Hommage an die nächste und offenbart dabei sowohl sein Talent in Sachen Songwriting und Produktion, übernimmt sich aber auch immer wieder mit diesem fast größenwahnsinnigen Konzept des stetigen Stilwechsels, den er bis zum Ende durchhält.
"Nostalgie" rückt ein Hardrock-Riff ins Zentrum, "Kaputt & Munter" ist ein starkes, komplexes, elektrifiziertes Balladengebilde, "Die Letzte Seite" eine Oasis-Lagerfeuer-Hymne. Durch dieses ständige Wechseln der Stimmungen und Tempi stellt sich eine merkwürdige Hörerfahrung ein, in der man sich als Hörer nie so richtig sicher sein kann – und das ist für ein scheinbar klassisches Popalbum doch eher ungewöhnlich. Hört man sich die Platte ganz klassisch Song für Song durch, so klingt das weniger nach einem homogenen Album, als viel eher nach einer Playlist, die verschiedene Schaffensphasen eines Künstlers zusammen kombiniert.
So lässt uns "Vernunft, Vernunft" in einer ambivalenten Gefühlswelt zurück. Das Album entpuppt sich zwischen verschiedenen Gegensatzpaaren: Zwischen Leichtigkeit und Verbissenheit, zwischen Konventionen und Experiment, zwischen Langeweile und Überraschungen. Und vor dem Hintergrund dieser augenscheinlichen Vielschichtigkeit, ist es wohl ganz normal, dass sich für den subjektiv geprägten Hörer so mancher Song als lahme Ente herausstellt, während die nächste Komposition dann aber direkt zündet.
Gleiches gilt für die Texte: Manche Zeilen würde man sich am liebsten tief rein ins Langzeitgedächtnis brennen, um sie im passenden Moment abfeuern zu können, andere Textgebilde wirken indes wie oft gehörte Kalendersprüche. Doch bei aller durchscheinenden Kritik: Am Ende muss man Tiemo Hauers Mut und natürlich auch sein schieres Können, ein solches Album um jeden Preis umzusetzen, bewundern und honorieren. Denn tatsächlich hat man solche Soundwelten in Deutschland nur ganz selten zu Gesicht und Ohren bekommen.
Die Platte ist fast erschreckend kurzweilig. Und wir dürfen echt gespannt sein, in welche Richtung sich der immer noch erst 26-jährige Musiker und Produzent in Zukunft entwickelt – das Potential erscheint grenzenlos, alleine der finale Feinschliff oder ein echter Schuss Unberechenbarkeit und Radikalität fehlt.
2 Kommentare mit einer Antwort
Song Nr. 2 heißt: Uns hat keineR gefragt ...
Schade auch der! In einer brisanten Zeit, schreibt keiner der "neuen" deutsch sprachigen Künstler, auch keiner der "alten" Künstler oder einer der vielen die Künstler sein wollen ein Album was sich am Zeitgeist reibt. Sehr schade. Alles Wiederkäuer.
Werd' mal deutlicher ...?
Gruß
Skywise