laut.de-Kritik
Nicht-Konsum ist Widerstand!
Review von Mathias Möller"Kapitulation" war für mich ein Heiligenschrein, gemeißelt in Stein von den Göttern selbst, in alle Ewigkeit. Nie im Leben würden Tocotronic in der Lage sein, das zu toppen. Zu eindringlich, zu direkt hat das 2007er-Album der Hamburger zu mir gesprochen. Und jetzt wagen sie es tatsächlich, mir eine weitere Platte anzutragen.
"Schall Und Wahn" ist pompös betitelt. Schall. Nicht Musik, nicht Wohlklang, einfach nur formlos, physisch nüchtern: Schall. Und Wahn. Nicht Wahnsinn, nicht Verrücktheit, altbacken, fast gestelzt: Wahn. Was macht der frei assoziierende Hörer daraus? Sicher ist: Sinniert man über den Titel, malt man sich ein falsches Bild vom neunten Studioalbum der Hamburger.
Denn "Schall Und Wahn" spricht nicht vom wahnsinnig sein, höchstens von der Möglichkeit des wahnsinnig werdens, in unserer turbokapitalistischen Gesellschaft, die dem Einzelnen alles abverlangt. Deswegen ist der Imperativ, unter dem Tocotronic handeln, stets die Verweigerung. Sie verweigern sich der Verwertbarkeit, und fordern den Hörer auf, das gleiche zu tun.
"Macht Es Nicht Selbst" ruft dazu auf, nicht produktiv zu sein, kein Rückhalt für den aktivierenden Staat zu sein, Nein zu den incentives zu sagen. Der Wirtschaft keine Verlässlichkeit bieten: Nicht-Konsum ist Widerstand. Der Weg zu dieser Gleichgültigkeit führt über die Selbstaufgabe, die am Ende absolut frei macht: "Von heute an leben wir ewig". Schwingt da nicht auch ein bisschen foucaultsche Gesellschaftskritik mit?
Musikalisch gesehen wirkt "Schall Und Wahn" reifer als alles, was es bislang von Tocotronic zu hören gab. Die Band gibt sich gegenseitig Raum, Soli und andere Ausschweifungen bleiben die Ausnahmen. Dafür gibt es verstärkt Streicher und sogar Falsettgesang. Gegenseitiger Respekt prägt das gemeinsame Musizieren, wie Dirk und Jan auch im Interview mit laut.de anmerkten. Zum Wohle des "Schalls", möchte man sagen.
Kein Zweifel, "Schall Und Wahn" ist ein weiteres Meisterwerk im Oeuvre einer Band, die offensichtlich nicht gewillt ist, sich ein Versagen zu leisten. Vielleicht erwächst diese Stärke ja grade aus der Freiheit, die sich nehmen, von der sie auch auf diesem Album erzählen. In diesem Sinne kann mir das Rebellische in Tocotronic nur Recht sein. Sie haben sich einen weiteren Schrein errichtet.
88 Kommentare
22.1.2010
leisevormichhinfreu
räusper.
shaaaakespeare, faulkner, dirk von lowtzow und co.
Das am Ende mit DJ Bobo hätte nicht sein müssen, ansonsten hätte ich es wirklich nachvollziehen können, dass du Schall & Wahn nicht magst. "Im Zweifel für den Zweifel" ist zur Zeit das Stück auf dem Teil, unfassbar schön. Und heute habe ich noch einmal "Wir kommen, um uns zu beschweren" gehört, ganz anders, trotzdem klasse!
ich finds unerträglich wie dirk singt. das wird von platte zu platte schlimmer.. und bessere musiker sind sie auch in all den jahren nicht geworden. aber das ist ja so gewollt
ihr bestes album seit dem weissen.