laut.de-Kritik
20.000 Menschen feiern Bonos Geburtstag.
Review von Michael SchuhEr steht am Rand der Bühne, schaut kurz ins Publikum, zögert, alle Hände greifen nach ihm, dann gibt sich Bono einen Ruck und stellt sich etwas wackelig auf die hundertfingrige Fan-Feuerleiter. Später wird er einen Jungen auf die Bühne holen, sich ihm als Paul Hewson vorstellen und mit dem Kleinen zu den Klängen von "Into The Heart" über die riesige kreisrunde Bühne zurück zu seinen drei Bandkollegen zurück gehen. Nein, wir befinden uns nicht im Kaufvideo "Under A Blood Red Sky" aus dem Jahr 1983, wie man vermuten könnte, sondern sehen Bono bei seiner täglichen Arbeit an zwei Tagen im Mai 2005 zu, einer davon sein Geburtstag.
Natürlich hatten U2 vor 22 Jahren auch keine riesigen, kreisrunden Bühnen, dafür war Bono seinerzeit ein ähnlich publikumsfixierter Frontmann. Zur Freude seiner Kollegen Adam Clayton, The Edge und Larry Mullen Jr. nimmt er heute davon Abstand, unabgesprochen auf Baldachine oder Lichtaufbauten zu klettern. Dennoch erinnert die aktuelle Live-Atmosphäre wieder sehr an die Zeit Anfang der 80er, als sich über die Hälfte des heutigen U2-Publikums noch im Vorschulalter befand und die Insulaner die neue Generation Rock repräsentierten.
Kürzlich fiel mir ein Interview mit The Edge aus dem Jahr 1984 in die Hände, die Band hatte gerade gemeinsam mit Daniel Lanois und Brian Eno das Album "The Unforgettable Fire" fertig gestellt. Darin ließ ein britischer Interviewer seinem Ärger darüber freien Lauf, dass U2 den kleinen, verrauchten Theatern nun große Plätze wie das Londoner Hammersmith Palais vorzögen, in Amerika gar Stadien. The Edge hatte seine liebe Mühe gegenzusteuern: Man nehme es als Herausforderung an, den intimen Fankontakt in die großen Hallen mitzunehmen, der unruhige Frontmann Bono fungiere hier als zentrale Schlüsselfigur und außerdem müsste man andernfalls drei Wochen am Stück im selben Club auftreten. Unglaublich, aber 1984 füllte eine solche Diskussion noch knappe zwei Magazin-Seiten.
Um nicht drei Wochen am Stück in einer 10.000er Halle zu spielen, buchen U2 seit Jahren Plätze wie das United Center in Chicago, in dem doppelt bis dreimal so viele Menschen Platz finden. In solchen Mega-Arenen treten die Iren dann zweimal oder ab und zu auch vier Mal hintereinander auf, was in diesem besonderen Fall ihrer enormen Popularität in der drittgrößten Stadt der USA zukommt. Man kann U2 wie jeder arrivierten Superstar-Band einiges vorwerfen, aber dass sie nur lustlos einen Stiefel voller Greatest Hits runterspielen, ähnlich jenen 70er Rockbands, die den Iren Anfang der 80er als warnendes Gegenbeispiel dienten, erscheint angesichts des vorliegenden Bilddokuments hinfällig.
Gut, gerade mal zwei Jahre ist es her, seit U2 ihr Slane Castle-Heimspiel auf DVD veröffentlichten. Angesichts der damaligen Synchronisationspannen und der wahrhaftig eindrucksvollen, aktuellen Chicago-Show ist der Band aber nichts weiter anzulasten. Vielmehr dokumentiert die DVD, dass U2 eine bis unters Dach vollgepackte Arena ähnlich zu fesseln vermögen, als spielten sie noch im kleinen Park West, ihrer ersten Chicago-Station 1981. Selbst der britische Kollege müsste heute zugeben: Das Etikett "Stadionband" ist keine Beleidigung.
Zudem ist die Setlist 2005 einfach tausendmal besser, was nicht nur daran liegt, dass das aktuelle Studioalbum das vergangene um Längen schlägt. Ohne Vorankündigung erklingen nach dem Einschieben der DVD die Takte des Openers "City Of Blinding Lights", keine "Warnings", kein "Menü", kein "Easter Egg"-Nonsens. Just rock! Die Führung der geschätzten 30 Kameras orientiert sich an zeitgenössisch rasanter Schnitt- und Zoomtechnik, was streckenweise schade ist, da so die Screen-Vorgänge etwas außer Acht bleiben. Dafür fliegt man teilweise aus luftigster Höhe hinab auf den Hinterkopf von The Edge, betrachtet die immer mehr Sylvester Stallone (Spätphase!) ähnelnde Physiognomie des Trommlers Larry Mullen Jr. oder man sieht den kleinen Bono überlebensgroß aus der Höhe eines Fan-Handys.
Neben dem fulminanten Beginn mit dem Doppelschlag "Vertigo"/"Elevation" (letzterer Song in einer Wahnsinns-Version) überzeugen besonders "Running To Standstill", den "brave Americans" gewidmet, und die Oldie-Packung "Cry/Electric Co." und "An Cat Dubh/Into The Heart", was in etwa der Überraschung gleichkommt, als würden Depeche Mode nächstes Jahr hintereinander "Photographic", "My Secret Garden", "Something To Do" und "Shake The Disease" spielen. Ungefähr. Natürlich geht es bei einem U2-Konzert heute immer um Moral: "Sunday Bloody Sunday" dient Bono als Hintergrund für einen flammenden, religionsumspannenden Friedensappell: Für die Koexistenz von Christen, Juden und Moslems, allen Söhnen Abrahams. In "Where The Streets Have No Name" predigt er Gleichberechtigung als großes Ziel für Afrika während zahllose Landesflaggen des Kontinents die Screens füllen. "Beautiful Day" und "Pride" dienen vordergründig der kollektiven Ekstase, wie 20.000 Kehlen belegen.
Doch auch diejenigen, die sich an Bonos Missionierungseifer als Teil des irischen Entertainments stören, müssen den Mann für seine inhaltliche Standhaftigkeit bewundern. Für sein Showtalent ohnehin. Dass er mit "Zoo Station", "The Fly" und "Mysterious Ways" noch einen richtigen "Achtung Baby"-Block" abfeuert, erfreut besonders. Als dieses zeitlose Studioalbum 1991 erschien, war der U2-Sänger die folgenden zwei Jahre in der Öffentlichkeit nur mit dicker Sonnenbrille unterwegs. In Chicago nimmt er seine Gläser erst bei "Sometimes You Can't Make It On Your Own" ab. Der intensive Song ist seinem verstorbenen Vater gewidmet, und sogar vor dem Fernseher hat man unwillkürlich das Bild vor Augen, wie die U2-Kollegen Adam und Larry am Tag der Beerdigung dessen Sarg tragen. Intim geht die Show folgerichtig auch zu Ende: U2 spielen "40", Bono hält den Scheinwerfer. Und plötzlich ist wieder 1983. Nur die anderen Rockbands sind irgendwie so verdammt jung ...
1 Kommentar
eine fast überdimensioniert perfekt gelungene DVD! fast deswegen, weil beim song "elevation" die stimmbänder bono's mehr als höhrbar den dienst versagten - leider - !
so gesehen, für perfektionisten wie es u2 nun mal sind, ein kleiner wehmutstropfen.
ansosnsten bravissimo, und das uns diese haudegen der rock-szene länger erhalten bleiben als es die rollenden steine vor haben!!
greets and thanks