laut.de-Kritik
Das Motown-Label des Reggae und Ska wird 50.
Review von Michael Schuh100 Euro für eine absurd pralle Ansammlung an mitreißenden Tunes, die größtenteils vor 50 Jahren im Ganjarauch eingehämmert wurden? Von Menschen, die sich im Hauptberuf als Schnapsverkäufer durchschlugen? In einem prähistorischen, auch analog genannten Zeitalter auf einer Insel, die eben noch ihre Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich feierte, auf der weniger Menschen lebten als in Berlin, die aber wiederum mit besserem Musikgeschmack ausgestattet waren als Komplettdeutschland, wo man eine Vergangenheit des Grauens mit tumbem Schlager-Mief wegschunkelte? Ja, lasst euch sagen, diese 100 Euro sind goldrichtig angelegt.
Vielleicht solltet ihr einen Plattenspieler besitzen, sonst wäre der Spaß doch etwas arg teuer. Zum 50. Geburtstag des wegweisenden Labels Trojan Records fluten zahlreiche Jubiläumscompilations den Markt und "The Trojan Records Boxset" sind die Kronjuwelen. Eine Sammler-Box, die weit mehr als die Crème de la crème der reichen Palette an Reggae-, Ska- und Rocksteady-Tracks einfängt, und somit auch für eingeweihte Jamaika-Kenner ein einziges Vergnügen darstellt. 189 Songs auf vier LPs und sechs CDs, dazu zwei 7"es ("You Have Caught Me" von The Melodians, "The Little That You Have" von Justin Hinds & The Dominoes sowie "Real Reggae Music" von Reggae Roast Soundsystem), ein Hardcover-Buch mit Albumcover-Reproduktionen, ein 7"-Adapter, Poster, Sticker und eine Slipmat.
Chris Blackwell, ausgerechnet ein Brite, ist die entscheidende Figur in dieser Geschichte, quasi der Rick Rubin von Trojan. Er gründet das Label, benannt nach dem Pritschenwagen, mit dem der jamaikanische Produzent Duke Reid sein Soundsystem durch die Gegend schleifte, 1968 zusammen mit seinem Island Records-Kollegen Lee Gopthal.
Die ursprüngliche Idee: Trojan sollte als britischer Ableger für die Veröffentlichungen von Reid fungieren. Stattdessen sollte Trojan bald Künstler wie Lee Scratch Perry, Desmond Dekker, The Pioneers, Prince Buster, Jimmy Cliff und natürlich Bob Marley bekannt machen. Aus dem Schmelztiegel von Tango, Calypso, Samba und der kubanischen Rumba, entwickelte sich zunächst Mento, dem die Musiker einen Schuss Boogie-Woogie und R'n'B hinzufügten.
Wie zeitgemäß und groovy diese Songs 50 Jahre später noch klingen, ist allein schon anhand der abenteuerlichen technischen Voraussetzungen der Studios, in denen Schwergewichte wie Reid oder sein 2004 verstorbener Konkurrent Coxsone Dodd operierten, ein einziges Wunder. Trojan dockte an die Arbeit dieser Pioniere an, die bereits in den 50er Jahren mit ersten mobilen Diskos, den "Downbeat"-Soundsystems, die Slums in Kingston beschallten und 1963 das ebenso kultisch verehrte "Studio One"-Plattenlabel aus der Taufe hoben.
Trojan wiederum brachte diesen Sound nach Großbritannien, wo eine nach neuen Ausdrucksformen der Rebellion lechzende Jugend zu dankbaren Abnehmern wurde. Mods, schwarze und weiße Skinheads und Suedeheads - die Arbeiterklasse bevölkerte den Dancefloor. DJ und Trojan-Experte Don Letts, der dieser Tage auch die Interview-Promo für die Veröffentlichungen übernimmt, erinnert sich: "Dies ist das Label, das tonnenweise Charthits gelandet und einen Soundtrack geliefert hat, der Schwarze und Weiße zusammenbrachte. Ich war einer davon. Trojan ist ein Qualitätszeichen in den Augen von Fans des Jamaica-Sounds und nimmt einen ganz besonderen Platz in den Herzen, Gemütern und Tanzbeinen der Leute ein." Paul Weller, Paul Simonon, Judge Dread, Eric Clapton oder Jonny Greenwood dürften dem wenig hinzuzufügen haben. Der 120 Kilo schwere Brite Judge Dread arbeitete zunächst als Schuldeneintreiber für Trojan und wurde eher versehentlich von Gopthal entdeckt: Sein "Big Six" ist ein Klassiker des Skinhead Reggae.
Evergreens wie "Liquidator" von den Harry J Allstars (später von den Specials später in ihrer "Skinhead Symphony" geadelt) oder "Everything I Own" (von Ken Boothe, nicht von Boy George) findet man in der Box nur auf Vinyl. Ebenso Tony Tribes Urversion von "Red Red Wine", das später durch UB 40 zu Weltruhm gelangte. Apropos: Grandiose Coverversionen sind schon in Trojan-Zeiten en vogue gewesen: Der Orgeltraum "Hey Jude" von The Dynamites zum Beispiel. Kris Kristoffersons "Help Me Make It Through the Night" überträgt John Holt souverän ins Reggae-Gewand.
Die LPs sind überschrieben mit den Kapiteln "Trojan Hits" (zwei LPs), "Dancing Time" und "Reggae Goes Pop!", aber das spielt letztlich nur eine untergeordnete Rolle. Klar, bei den Hits-LPs wird nicht gekleckert: "To Be Young Gifted And Black" von Bob & Marcia (nicht Marley, sondern Bob Andy and Marcia Griffiths) kennt spätestens beim Refrain jeder, auch "Monkey Man" von den Maytals, "You Can Get It If You Really Want" von Desmond Dekker oder die ultrafette Groove-Machine "Return Of Django" von den legendären Upsetters.
Die "Dancing Time" sieht man hingegen abermals bei Dekker gekommen, der nämlich einen Song namens "Dancing Time" im Repertoire führt, smoother Rocksteady wie "Soul Love" (Joey & Group & Tommy McCook & The Supersonics) ist dabei, aber auch obskures Entdeckermaterial wie "Lick It Back" (Winston Samuels) und smarte Schnulzen wie "Baby I'll Be Yours" (The Gaylads). Auch interessant: Mit der heute vergleichsweise weniger bekannten Single "Double Barrel" von Dave & Ansel Collins stürmte Trojan 1971 zum ersten Mal auf Platz eins in den britischen Charts.
Im Zuge der 70er Jahre erlahmte die Energie der frühen Jahre etwas, aber das Ska-Revival bescherte Trojan einen spektakulären Aufschwung. Die genannten Specials und die Prince Buster huldigenden Madness weckten ein neues Interesse an den klassischen Ska- und Reggae-Hits des Labels, deren Compilations reißenden Absatz fanden. Seit etwa Mitte der 80er kümmern sich die Verantwortlichen um den reichen Back-Catalogue, der im Streamingzeitalter noch schneller auf interessierte Ohren stoßen dürfte.
Als da wären: Dandy Livingstone, als Interpret des bekanntesten Rocksteady-Songs "A Message To You, Rudy" bekannt geworden, ist mit dem superben "Suzanne Beware Oo The Devil" am Start, der legendäre Posaunist Rico mit dem frühen "Ska Beat" und "Do The Moonwalk" von den Rudies ist eine dieser raren, für diese Veröffentlichung ausgegrabenen Stücke, nach denen sich selbst 7"-Sammler die Finger lecken. Bekannt geworden ist die Nummer als "Skinhead Moonstomp" von Symarip - selbstverständlich ebenfalls ín der Box enthalten (auf LP, The Rudies auf CD).
Die Leistung von Trojan Records war es, den Sound aus Jamaika einem globalen Publikum zugänglich zu machen. Die Begeisterung hält bis heute an und kann unterschiedlich ausgelebt werden: Die bereits im Vorfeld der Box erschienenen Doppel-CDs "This Is Trojan Rock Steady", "This Is Trojan Boss Reggae", "This Is Trojan Roots", "This Is Trojan Dub", "This Is Trojan Reggae" und "This Is Trojan Ska" sind ebenso packende Zusammenstellungen für den kleineren Geldbeutel. Mit rund 50 Tracks pro Doppel-CD und großem Booklet wurde auch hier sorgfältig auf die Form geachtet. "54-46 Was My Number" ... und wenn man die Zahlen addiert, kommt 100 raus, also tauscht die Kohle doch einfach bei eurem Plattenhändler oder im Internet gegen diese wundervolle Box ein. Es wird euer Schaden nicht sein.
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