laut.de-Kritik
Der Kubicki des Deutschrock zieht alle Register.
Review von Philipp KauseWestdeutsche Stadionrocker neigten in den Siebziger und Achtzigern dazu, einen Rory Gallagher oder Stones auf Deutsch zu liefern. BAP gingen so weit, The Kinks auf Kölsch zu covern, einmal sogar mit Ray Davies im Duett, Udo Lindenberg äußerte seine "Sympathie für den Teufel", und selbst Maffays "Samstagabend in unsrer Straße" kann man eine Verwurzelung in britischem Bluesrock attestieren.
Marius Müller-Westernhagen perfektionierte diese Mischung aus deutschen Texten, Blue Notes, Hardrock-Riffs und Irish Pub-Stimmung bei seinen Live-Shows. Exemplarisch stehen dafür "Sexy" (1989), das auch noch eine funky Schlagseite hat und somit sein persönliches "Miss You" ist, oder "In Meiner Bude Flipp' Ich Aus" (1980) mit der schönen Einleitung "Ich bin im Arsch / ich bin total kaputt!"
Solche Klassiker funktionieren bis heute, trotz stilistischer Schlenker des Künstlers auf den letzten Studioalben. Balladen und ruhigere Stücke wie "Taximann" (1975) oder die Hymne "Freiheit" (1987) als Konzert-Rausschmeißer sorgen für die richtige Mischung. "Live Waldbühne Berlin" kündet als Doppelalbum von Westernhagens richtiger Entscheidung, das Publikum weniger mit neuen Liedern zu langweilen, als viel mehr die eigenen Evergreens in einer starken Dramaturgie abzuliefern. Über 100 Minuten lang Highlights in einer nostalgisch-rockigen Grund-Tonalität - damit unterhält der gerade 76 gewordene Singer/Songwriter routiniert.
Es beeindrucken sowohl die Hit-Dichte vom Pfefferminz-Prinz bis zur Hymne "Freiheit" als auch die beeindruckende Zahl an qualitativ gut gebauten Songs. Nur wenige wie zum Beispiel "Rosen" rauschen vorbei, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Die meisten Nummern tun sich hingegen als charakteristisch und entweder musikalisch oder textlich originell hervor, oft beides.
So sind Trennungslieder in der Kategorie 'Uptempo' eine seltene Spezies. Doch "Fertig" (1989) sprüht 35 Jahre nach Erscheinen ohne Abnutzungseffekt Funken. Zu MMW im Jahre '89 gehört auch einer seiner Über-Klassiker, "Sexy": "Du bist 'ne Waffäää, für die es keinen Waffenschein gibt..." - Sinnfällig platziert der hagere Westernhagen diesen Reißer exakt in der Mitte der Showtime.
Die Dramaturgie des Sets ist wirklich gelungen. Steigernd aufgebaut, setzt es mit dem guten, stromgeladenen Stomper "Ich Will Raus Hier" aus dem aktuellen Album an der Position Zwei einen Überraschungs-Moment. Das Lied dürfte auch in Fan-Kreisen noch nicht allzu bekannt sein, aber man muss es gar nicht kennen, damit es einen ordentlich in Stimmung bringt. Wieder und wieder wechseln im Set kleinere Blöcke mit zwei bis drei zusammen gehörigen, einander ähnlichen Stücken, mit sehr kontrastreichen.
So entsteht eine perfekte Dynamik aus ruhigeren und treibenderen Songs, raueren und seichteren, kürzeren und längeren, Verstärker-gestützten Darbietungen und unplugged-Versionen, instrumentalen Minuten zur Auflockerung und textbeladenen Strecken. Für weitere Abwechslung sorgt das Gleiten von Westernhagens interessanter Stakkato-Gesangstechnik im Working Class-Oldie "In Meiner Bude Flipp' Ich Aus" (1980) über seine Americana-Vocals vor allem in neueren Tunes wie "Zeitgeist" (2022) bis hin zum Auftritt seiner 30 Jahre jüngeren Ehefrau Lindiwe als Sängerin in "Luft Um Zu Atmen".
Zu bemängeln wäre einzig, dass die Ansagen knapp und selten sind und Marius keine Anekdoten zum Besten gibt. Ansonsten kann ich nur loben: Weder an der Tonqualität noch spielerisch lässt sich etwas aussetzen, und die Liederauswahl spiegelt facettenreich die gesamte Karriere des Deutschrockers.
In "Taximann" führt die Band ein tolles Arrangement auf. Der Background-Chor aus Monica Schmidt, Marlin Winford und Ingrid Arthur passt perfekt, und nach vier Minuten schwenkt die Crew auf einen überraschenden Fusionjazz-Break mit Congas über, Heidi Joubert heißt die Trommlerin. Der Song hat seit 1975 keine Patina angesetzt und glänzt in Unplugged.
"Die Wahrheit" ist ein wunderschönes neues Juwel am anderen Ende der Diskographie, 2022. In "Lass Uns Leben" wartet ein Finale an der E-Orgel, bei dem Tastenmann Andy Burton aufs Ganze geht. Das lange und steigernd aufgebaute "Halt Mich Noch Einmal" gewinnt durch die Background-Sängerinnen fett an Schwung und Spannung, ist aber auch als seltsame Brücke vom Softrock zum crunchig-dissonanten Grunge in Neil Young-Stil interessant zu hören. In der vierten und fünften Minute röhrt Senior Marius aus voller Kehle, rostig zwar, aber niemals rastend.
Rost haben übrigens auch die Lyrics angesetzt. Wenn der heteronormativ männlich gelesene Protagonist des Songs "In Meiner Bude Flipp' Ich Aus" sich freut "mit meinem süßen Hasen" zu tanzen, wird ihm außerhalb der Waldbühne viel Widerstand gewiss sein, weil das so sexistisch klinge und die Frau zum Objekt degradiere. Der Typ trägt Lederjacke, ist Alkoholiker und schlägert sich in der Kneipe. Der Hase heißt Carola. Der Typ arbeitet aufm Bau, die Häsin im Büro. Er erteilt ihr den Auftrag "Mach uns 'nen Kaffee / du weißt ja, wo er steht."
"Schweigen Ist Feige" erschien noch 1996 (auf dem Album "Keine Zeit") mit der Anfangszeile "Ich bin der schwärzeste Neger", mittlerweile geändert in "Ich bin der schwärzeste Schwarze", wobei man das im verwaschenen Sound angesichts der lauter klingenden Band an der Stelle nicht wirklich hört. Weiter referiert Westernhagen in diesem Song "ich hab den größten Schwanz."
Der Sänger wurde als Teenager 'Krümel' genannt, wie er in "Inas Nacht" mal verriet. Auf jeden Fall zerkrümelt er bis heute Wörter, hält im Gesangstempo mit dem Sprechtempo Wolfgang Kubickis Schritt, auch hinsichtlich des Verschluckens von Silben - und andererseits der Deftigkeit der Wortwahl. Trotz der Volksnähe ist es schade, dass das für die Wiedervereinigung in positiver Weise vereinnahmte Lied "Freiheit" inzwischen bei Corona-Impfgegner-Demos noch mal als Wutbürger-Soundtrack zweckentfremdet wurde. Denn in diesem Kontext sind die Stimmung und Zeilen dieser gut mitsingbaren Hymne doch recht unpassend (selbst dann wenn man die Position nachvollziehen kann, für die demonstriert wurde).
Der Autor des Liedes lässt sich davon nicht beirren und setzt das Stück als i-Punkt-grand finale auf die beiden super performten Unplugged-Versionen "Weil Ich Dich Liebe" und "Johnny Walker". Wie geschickt der gebürtige Düsseldorfer Abstrakta wie "Freiheit", "Die Wahrheit", Macht und Mut mit wiederum konkreten Szenen und Aktionen in den Liedtexten verknüpft, macht ihn zu einem immer noch unterhaltsamen und wohl auch eines Tages unvergesslich zeitlosen Künstler.
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Peak Boomer Deutschrock - *