laut.de-Kritik
Handgemachte Arrangements in subtilen Dramaturgien.
Review von LAUT-RedaktionIn der Vergangenheit wurde immer wieder gemutmaßt, dass der Eigenbrötler Jeff Tweedy den ständigen Wechsel seines Wilco-Personals benötige, um seine Innovationsfähigkeit auszuschöpfen. Nun wurde das siebte Album des Sextetts erstmals mit dem selben Lineup wie auf dem Vorgänger ("Sky Blue Sky") eingespielt, es überrascht mit einem Kamel auf dem Coverartwork und trägt den wohl prosaischsten aller Titel. Gibt sich Jeff Tweedy jetzt als Spaßmacher, der gelernt hat, sich selbst und seine Musik nicht mehr ganz so wichtig zu nehmen?
"Start up your Stereo/ put on your Headphones/ before you explode/ Wilco will love you, baby" tönt Tweedy im Opener "Wilco (The Song)" zum kernigen Rockgitarren-Riff und lässt im verzerrten Backgroundsound Glockenspiele und Chöre erklingen. Die selbstbezügliche, rasante Nummer führt wunderbar ein in das im weitern Verlauf vielseitige Werk.
Nach dieser kraftvollen Huldigung an die Fans präsentiert Tweedy im wunderbaren "Deeper Down" zur Akustischen und Schlagzeug eine seiner liebenswerten Midtempo-Melodien, um die sich barockartige Cembalo-Klänge und Nels Clines geisterhaft schönes Gitarrenspiel ranken, das auch im elegischen "One Wing" markant zur Geltung kommt.
Die größte Herausforderung, aber auch den größten Ausdruck an Variationsreichtum stellt das extrem borstige Schauerstück "Bull Black Nova" dar, dessen erzählte Geschichte eines Mörders sich in dunklen Krautrock-Experimenten und Jazzanleihen ausdrückt und sich trotz der Noise-Flächen nie in der Dissonanz verliert. Ansonsten verzichtet die Band auf jegliche Soundeskapaden.
Von ihrer heitersten Seite zwischen Southern Rock California-Pop zeigen sich Wilco mit "Sonny Feeling" und "You Never Know", das mit dem gutlaunigem Refrain ("I don't care anymore"), fröhlichem Pianostomp, lieblichem Backgroundchor und der säuselnden Gitarre auch von George Harrison stammen könnte. Das hoffnungsfrohe "I'll Fight" knüpft melodisch an "On And On And On" vom Vorgängeralbum an. Tweedy erfindet sich wahrlich nicht neu, aber mit welcher Beständigkeit er solche Melodien aus dem Ärmel schüttelt, ist bemerkenswert.
Auch wenn er sich scheinbar sorgenfrei auf der sonnigen Seite bewegt, kommen die zahlreichen Freunde seines balladesken Liedguts auf ihre Kosten. Allen voran mit der Single-Auskopplung "You And I", die er im Duett mit Leslie Feist zur Rhythmusgitarre zum Besten gibt, oder dem betörenden Track "Country Disappeared". Ebenso großartig kommt "Everlasting Everything" daher, das sich nach akustischem Einstieg mit orchestraler Instrumentierung immer wieder sachte emporschwingt.
Zum Fingerpicking und säuselnder Lapsteel resümiert der Singer/Songwriter in "Solitaire" zärtlich-melancholisch schließlich erneut seine bewältigte Vergangenheit: "Once my life was a game so unfair/ it beat me down and kept me there". Das er wieder aufgestanden ist, ist hinlänglich bekannt.
Festzuhalten bleibt, dass auch ein gutlauniger Jeff Tweedy starke und intensive Songs schreibt, denen sich seine musikalischen Mitstreiter jederzeit unterordnen. Auch wenn die Chicagoer Jungs stilistisch sprunghaft sind, allgegenwärtig ist die instrumentale Feingeistigkeit und Gelassenheit, mit der die Melodien ausgemalt sind.
Tweedys Besinnung auf altbewährte Qualitäten- inklusive der Bandbesetzung - paart sich hier liebevoll mit handgemachten Arrangements und subtilen Dramaturgien. Mit diesem Songmaterial steckt er viele seiner Singer/Songwriter-Kollegen nach wie vor locker in die Tasche. Das Kamel auf dem Cover nimmt man da gerne in Kauf.
6 Kommentare
Ich finde, es sollte viel mehr Kamele auf Plattencover geben!
Die Jungs hauen mal wieder ein Meisterwerk raus. Mit oder ohne Kamel...
Neels Cline hält sich angenehm zurück. Lies auch http://www.jahrgangsgeraeusche.de/?p=2156
Irgendwo auf Amazon hab ich gelesen es soll voll Popig, ich muss sagen es is alles aber nicht das. ICH bin auch en großer Wilco fan und finds wie immer großartig.
@flipsidescreen (« Ich finde, es sollte viel mehr Kamele auf Plattencover geben! »):
Dem stimme ich voll und ganz zu!
Nach Dauerrotation:
Wirklich ein phänomenales Album.
Es vereint gekonnt die ruhigen, tiefgründigen Songstrukturen von Sky Blue Sky mit den raueren, kantigen und treibenderen aber trotzdem melancholisch schönen Hymnen der beiden experimenteller angehauchten Alben davor.
Mag man zum Anfang hin das Album zwar als gut, aber nicht als Highlight wahrnehmen und die Songs eher im Gesamtkonzept überzeugend finden, so entwickelt sich nach und nach aus jedem Song ein eigener Charme.
Wird man zu erst vom selbstbetitelten Opener übermannt, um so in die knapp 43 Minuten hineingerissen zu werden und erst wieder durch das sanfte, immer wieder aufbäumende und wunderschöne "Everlasting Everything" entlassen zu werden, so entwickeln die restlichen Songs mit jeder Wiederholung ihren ganz eigenen, wilcotypischen Charme.
Nicht jedes Lied ist brilliant, aber man möchte auch keines mehr missen.
Den Perlen voran: Das erst langsam in den Kopf dringende One Wing, das raue Bull Black Nova und natürlich die schon erwähnte Ballade am Ende.
Aber auch das himmlisch, kurzweilige Feist/Tweedy Duett, der energischere aber auch ländlichere "On And On And On"-Bruder "I'll Fight" finden ihren Platz in der Wilco-Bestenliste.
Keine Ausfälle, höchstens einige kleine Songs, die das Album tragen, die eben dazugehören, die existieren MÜSSEN, um nicht von Ohrwürmern erdrückt zu werden, die einfach auch ihre innere Schönheit besitzen, die erst ergründet werden will.
Ein ziemlich perfektes Album, das nicht mit A Ghost Is Born mithalten kann. Weil es so komplett anders ist.
Wie ein Urlaub mit den besten Freunden in einem verschlafenen Landstrich im Zentrum der USA.
Schön. Highlight des Jahres bisher.
Habe es seit heute!
Bis jetzt gefallen One wing und Solitaire ausgesprochen gut.
Bull black nova ist was ganz Großes.
Wirklich tolles Album.
Aber auf Wilco konnte ich mich immer verlassen.