laut.de-Kritik
Geschunden und zerschmettert ganz unten im Schlund.
Review von Dani Fromm"Don't push me 'cause I'm close to the edge", bat einst ein Vertreter einer ganz anderen musikalischen Richtung. "I'm trying not to lose my head." Alice In Chains dürften Grandmaster Flashs Balancier-Versuche entlang der Steilklippen, die das Leben zuweilen aufwirft, herzlich egal gewesen sein.
Mit "Dirt" im Gepäck rennen sie 1992, allen voran Frontmann Layne Staley, sehenden Auges und doch unaufhaltsam auf den Abgrund zu, verfolgt und bis zur völligen Erschöpfung gehetzt von den Dämonenhorden, die jahrelange Drogensucht in chemisch gefolterterten Hirnen gebiert. "I'd like to fly but my wings have been so denied."
Intro? Gibts nicht. Der Opener "Them Bones" springt den Hörer ohne Vorwarnung an, schubst ihn über die Kante, fräst ihm noch im Sturzflug das Fleisch vom Skelett und reißt ihn mit sich in die Schlucht. Es bleibt ein schäbiger Haufen geborstener Knochen. "I believe them bones are me."
"Der Gedanke, dass alle schönen Dinge, alles Wissen, alle Erfahrungen, die du gesammelt hast, einfach vorbei sind, wenn es mit dir vorbei ist, ängstigt mich. Der Gedanke, dass, wenn du die Augen für immer schließt, alles verloren ist, für immer", schreibt Haupt-Songwriter und Gitarrist Jerry Cantrell später über diesen musikalischen Amoklauf.
"Dirt" ist gerade einmal zweieinhalb Minuten alt und hat seine Zuhörerschaft doch bereits genau da, wo Alice In Chains sie haben wollen: geschunden und zerschmettert am Grund eines bodenlos erscheinenden Schlundes, "Down In A Hole". Eigentlich ein Wunder, dass ich da je wieder herausgefunden habe - empor geklettert an den Haaren meiner Alltime-Prinzessin. Hip Hop rettet Leben. Jeder Durchlauf von "Dirt" - und das waren in zwanzig Jahren verdammt viele - führt mir das wieder frisch vor Augen. Wäre ich seinerzeit auf Layne Staley hängen geblieben, ich wäre heute tot, "broken by my master".
Kein Gewöhnungseffekt will sich einstellen, keine Spur von Abstumpfung. "Dirt" macht mich 2012 noch genau so restlos fertig wie Ende 1992, als der Grunge-Hype alles, das irgendwie aus Seattle kam, ins Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit schwemmte. Dass Alice In Chains ihre Wurzeln weniger als manch andere Kollegen der Stunde in der rotzigen Ungeschliffenheit des Punk, sondern deutlich stärker im Metal verorteten, interessierte damals höchstens am Rande.
Mit einem Cameo-Auftritt in Cameron Crowes Film "Singles" und zwei Beiträgen zum zugehörigen Soundtrack - "Would?" bescherte ihnen später sogar eine Nominierung für den MTV Movie Award - starteten Alice In Chains ihren Höhenflug. Der führt, paradox genug, in finsterste Tiefen.
Schlagzeug, Gitarre, Bass, Gesang: Diese an sich erst einmal kreuzunspektakulären Elemente kreieren einen Strudel, dessen Sogwirkung auch einen erklärten Rock- und Grunge-Verächter, ein vom Metal relativ unbelecktes Gemüt erfasst und mit hinab zieht. "Sand rains down and here I sit holding rare flowers in a tomb ... in bloom." Seltsame, seltsame Welt.
"Ich glaube, ich muss hier mal was richtig stellen", erregte sich Jerry Cantrell unserem werten Michael Edele gegenüber im Interview. "Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen der Meinung sind, Layne wäre ein depressiver, verschlossener Mensch gewesen ... Wenn du mich fragst, war es gerade Layne, der auf Tour immer für gute Laune gesorgt hat und offen auf die Menschen zugegangen ist. Layne war von uns vier Typen noch der Netteste."
"Aber mit den Drogen ist das nun mal so 'ne Sache. Je mehr man davon nimmt, je tiefer man sich darin verstrickt, desto wichtiger werden sie und desto unwichtiger wird alles und jeder um dich herum. Das ging uns allen so, doch Layne hat leider kein Maß mehr gefunden und es letztendlich übertrieben. Er meldete sich nicht mehr und auf einmal war er tot."
So empfanden es nicht nur seine Bandkollegen: Staleys Mutter verständigte die Polizei, nachdem sie ein Bankangestellter darauf hingewiesen hatte, dass auf dem Konto ihres Sohnes seit Wochen keine Bewegungen mehr verzeichnet wurden. Die Beamten verschafften sich am 19. April 2002 Zugang zum Apartment des Sängers und fanden, was von ihm übrig war. Staley hatte sich bereits vierzehn Tage zuvor, am achten Todestag Kurt Cobains, mit einem Speedball das Licht ausgeblasen. Ob versehentlich oder mit Absicht - wer will das rückblickend noch feststellen?
Staleys langsames und am Ende elendig einsames Sterben begann bereits 1996. Nie, so erinnert sich Mark Lanegan von den Screaming Trees, verkraftete Layne den Verlust seiner Freundin Demri Parrot, auch sie ein Opfer der Drogen. "Nach ihrem Tod wollte er in seinem Leben nicht mehr weiter gehen."
Alles zersetzende Qual, drogeninduzierte Paranoia, klaustrophobische Hoffnungslosigkeit, dann wieder unbändig rasender Zorn, der, kaum dass er erschöpft in sich zusammen fällt, in lähmende, katatone Resignation umschlägt: All das schrie einem schon vorher aus Layne Staleys gemarterter Stimme entgegen. Im Zusammenspiel mit Cantrell vervielfacht sich die Wirkung des Gesangs noch.
"Die Tatsache, dass ich von jeher für zwei Stimmen komponiert habe, drückt dem Material von vorne herein einen deutlichen Alice In Chains-Stempel auf", zeigt sich Jahre später, nach der unerwarteten Wiederauferstehung der Formation mit William DuVall am Mikrofon, auch Cantrell im Klaren über ihr Markenzeichen. "Man sollte sich nicht unbedingt darüber wundern, dass wir tatsächlich wie Alice In Chains klingen. What the fuck should we sound like, anyway?"
Am besten klangen sie 1992 auf "Dirt". Cantrells Gitarrenriffs graben sich wie rostige Enterhaken tief in Leib und Seele. Sean Kinney trommelt sich dieselbe zusammen mit beiden Lungenflügeln aus dem Hals. Den Bass steuert Mike Starr bei. Übrigens letztmals, ehe er - im Grunde ein schlechter Witz - seiner Drogenprobleme wegen aus der Band fliegt und von Mike Inez ersetzt wird, der zuvor für Ozzy Osbourne in die Stahlsaiten griff.
Mit Blick auf das traurige einsame Ende, das Layne Staley fand, wirken die Texte gruselig prophetisch. "I lie dead gone under red sky / I feel so alone, gonna end up an big ole pile a them bones." Brrr. "Bad dream come true", nur zu wahr.
"Would?", der Titel ein Wortspiel, schrieb Cantrell eigentlich in Erinnerung an Andrew Wood von Mother Love Bone, ebenfalls ein Drogenopfer. "Am I wrong? Have I run too far to get home? Have I gone? Left you here alone?" Ja, genau so siehts aus. "Zeitlos", würdigt der Rolling Stone die Nummer - wie sich zeigt, mit Recht. "Eine der stylishsten Tracks der ganzen Dekade", heute noch so packend wie damals.
Gleiches gilt für "Rooster". Cantrell offenbart ein Stück seiner Familiengeschichte, versetzt in das alptraumhafte, verwirrende, sinnlose Szenario des Vietnamkrieges, in dem sein Vater diente. "Oh god please won't you help me make it through?" Mit Hilfe von oben ist nicht zu rechnen.
"Angry Chair" hat ausnahmsweise nicht Jerry Cantrell, sondern Layne Staley alleine verfasst, ein faszinierend beklemmendes, brachial gewalttätiges Stück Musik mit dem Potenzial, einem komplett den Verstand zu rauben. Erst recht, wenn man diese Platte im ungefestigten Alter von gerade 18 auf den Schädel getrümmert bekommt. "Lost my mind, yeah / I don't mind / Can't find it anywhere / I don't mind." Mir doch egal!
Mit "Dirt" verbindet mich eine Feuerwasser-mäßige Hassliebe. Ich liebe jeden verdammten Track, so wie ich jeden einzelnen aus ganzem Herzen hasse - weil mir eine Heidenangst einjagt, was diese Nummern mit meinem seelischen Gleichgewicht anstellen. "Hate To Feel", sozusagen. "Wish I couldn't feel at all." Nee, in dieses Loch will ich nicht zurück. Aber ein schaudernder, ehrfürchtiger Blick hinab, ab und zu, der muss drin sein.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
41 Kommentare mit 2 Antworten
Die gute Zeit. Mir bedeutet 'Facelift' fast noch mehr und es hat den Vorteil, dass die Produktion sumpfiger und - ja - dreckiger klingt als 'Dirt', aber natuerlich ist das wichtigste Album ihrer Karriere eben 'Dirt'. Gerettet hat mich damals und vor allem in den Jahren nach '92 bis '94 nichts, auch keine Rapmusik, ich bin immer wieder ertrunken und das lief halt im Hintergrund dazu.
hui geiles Album, was mich dennoch wundert ist die Tatsache das zwar die Großen Grungehelden wie Nirvana, Pearl Jam oder wie in diesem Falle Alice In Chains in der Meilenstein Kategorie geehrt wurden, von den Großen Indiehelden aber weder Dinosaur Jr., The Pixies, noch Tocotronic oder Sonic Youth(^^) erwähnt wurden. Naja wie dem auch sei wie immer ein Großes Lob an den Text, in diesem Falle an Frau(!) Fromm.
ROMMÉ
Die Platte von 2009 "Black gives way to blue"ist fast noch besser.
Die alten Sachen höre ich als "unplugged" beim Kartenspielen. Das macht eine besondere Atmospäre und beruhigt.
Eins meiner Lieblingsalben. Would? könnte ich mir den ganzen Tag anhören
so wie RATM die Wegbereiter für LB waren
so waren AIC die Wegbereiter für koRn
LB wiederrum waren Wegbereiter für LP
und koRn wiederrum waren Wegbereiter für Slipknot
LP dagegen waren Wegbereiter für niemand
und Slipknot waren Wegbereiter für 5FDP
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
2019 hab ich mir vorgenommen, mehr gitarrenmusik zu hören. da es heutzutage kaum gute und interessante bands gibt, hab ich einen blick in die vergangenheit gewagt. mein persönliches fazit: 70er jahre rock ist mir irgendwie zu corny mit diesem psychedelia kram, classic rock und vielen corny lyriks. die koksverseuchten 80er gehen noch weniger klar. zu pompös, zu überladen, zu theatralisch sind die großen rockacts dieser zeit. aber die musik anfang der 90er hat es mir richtig angetan. so zeugs von den smashing pumpkins und, noch besser, dirt von alice in chains. diese schweren gitarren, diese traurige aber zugleich mitreißende stimme von layne staley und diese von schwermut befallenen texte haben es mir angetan. eigentlich ist dirt zu heavy und metallisch, um als "echtes" grungealbum durchgehen, aber layne staleys themen und seine attitüde sind für mich ganz klar grunge. diese musik ist für mich beides gleichzeitig: erdrückend und befreiend. es gibt keine filler, nur highlights. "kaputte musik", die aber auf eigenartige weise perfekt ist.
die letzten beiden rockalben, die mich so gepackt haben, waren queens of the stone song for the deaf. soads toxicity und deftones white pony. und zu der zeit war ich noch ein angsty jugendlicher. dirt berührt und reißt mich sogar mehr mit als diese klassiker meiner jugendzeit, was ziemlich eigenartig ist. rap gibt mir derzeit nicht viel, weil ich von autotune und trap beats total übersättigt bin. nach einem mental schlauchenden arbeitstag will man doch schwere (aber keine agressiven) gitarrenriffs und "echte" stimmen hören.