laut.de-Kritik
Der Flötenschlumpf fängt an.
Review von Dani Fromm"Es klingt, als ob man in einem Garten einen Schmetterling zu fangen versucht", so Tyler The Creators Einschätzung, nachdem ihm André 3000 einen Teil seines neuen Albums vorgeführt hatte. Ich bin recht sicher, dass der erste Track dabeigewesen ist: Er hört und fühlt sich nämlich wirklich exakt so an. Wirkt der Einstieg noch festlich, fast ein wenig wie Kirchenmusik, geleitet André sein Publikum hernach tatsächlich ins Grüne: Es zwitschert und tschilpt, als säße man unter Bäumen auf grünem Gras. Hier piept etwas, dort krabbelt etwas anderes, und über einem wuschelt warmer Wind durchs Laub.
Nahezu sofort gehen die Gedanken unter dieser "New Blue Sun" auf Wanderschaft. Es perlt und klimpert, klappert und raschelt, das Ohr spitzt sich mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung, die Grundstimmung bleibt ruhig, entspannt, gelassen, heiter gar. So lange ihm der Wind solches zubläst, mag man dem Mann nicht allzu stark verübeln, dass er gerade sämtliche über Jahre, beinahe schon Jahrzehnte aufgeschichtete und in den Himmel gewachsene Erwartungen frittiert hat.
Wobei ... eigentlich doch. Ich meine, BITTE! Egal, wie lange er auch mit seiner Flötensammlung durch Wald und Flur schnüren mag: André 3000 ist immer noch fünfzig Prozent von OutKast, eine verdammte Legende, die nicht grundlos auf diversen Greatest-Rapper-of-all-Times-Listen gelandet ist. Wenn so einer aus dem Nichts nach 17 Jahren ein Solo-Album ankündigt, dann ist doch wohl sonnenklar, dass seine nach jedem Lebenszeichen lechzende Fangemeinde diesen Kerl darauf auch rappen hören will.
André ist sich dieser Tatsache natürlich überdeutlich bewusst. Sie ist ihm nur, wie man sieht, herzlich egal. Oder er konnte nicht anders. Oder beides, wie der Titel des Openers nahelegt: "I Swear, I Really Wanted To Make A 'Rap' Album But This Is Literally The Way The Wind Blew Me This Time". Tja, wat willste da anderes machen, als die Hoffnungen der Leute auf diesem sorgfältig aufgeschichteten Altar der Kunstfreiheit in Rauch aufgehen zu lassen?
Es ehrt André 3000, dass er immerhin glaubhaft versucht, mit diesem Akt niemanden vor den Kopf zu stoßen oder, schlimmer noch, irgendwen zu enttäuschen. "NO BARS!" schreit ein aufgestickerter Warnhinweis vom Cover, IN MAJUSKELN!!! Niemand kann behaupten, er hätte nicht gewusst, worauf sie*er sich hier einlässt. Kein Rap-Album, allsklar, aber ... was zum Heiligen Flötenschlumpf ist das hier dann?
Nun, irgendetwas zwischen Jazz und Hintergrundmusik aus dem Spa, würde ich sagen. Halb Improvisation, halb Meditation. Mit zwei kompakten Ausnahmen reißen die Tracks sämtlich locker die Zehnminutenmarke, "Dreams Once Buried Beneath The Dungeon Floor Slowly Sprout Into Undying Gardens" (da war er wieder, der Garten!) mäandert zum Abschluss mit reichlich Rasselrassel, Klingeling und Tröööt sogar gute siebzehn Minuten durch die Gehörgänge.
"The Slang Word P(*)ssy Rolls Off The Tongue With Far Better Ease Than The Proper Word Vagina. Do You Agree?" Ja, stimme zu, habe aber trotzdem keinen Schimmer, wie André 3000 hier auf dieses Thema kommt. Andererseits lädt diese ziellos herumstreifende Musik eben höchst wirkungsvoll dazu ein, die Gedanken schweifen zu lassen und dabei vom Hundertsten ins Tausendste, und von da über Gott, die Welt und deine Mutter zu weiblichen Genitalien zu assoziieren.
Die zitierten Tracktitel zeigen schon: Auch wenn André 3000 auf Vocals und entsprechend auf Worte verzichtet, die wahnwitzigen Geschichten sind ihm keineswegs ausgegangen. Man denke nur an "That Night In Hawaii When I Turned Into A Panther And Started Making These Low Register Purring Tones That I Couldn't Control ... Sh¥t Was Wild". Scheiße, aber sowas von wild!
Klangen die ersten beiden Tracks noch nach sonnenbeschienener Blumenwiese und lichtdurchflutetem Mischwald, geht es hier wesentlich dunkler und feuchter zu. Vor dem inneren Auge spult einer dieser alten Abenteuerfilme ab, dessen Protagonisten sich erst auf einer Expedition durch den Dschungel kämpfen, dann auf einem orientalischen Basar den Schlangenbeschwörer beäugen, ehe sie per Karawane durch die Weite der Wüste in den Sonnenuntergang schaukeln, und dann doch wieder unter raschelnden, dürren Zweigen enden - oder knistert da Feuer?
Von Stück zu Stück erscheint André 3000s Idee durchgeknallter, jeder Song unruhiger, unberechenbarer als der vorherige. Vielleicht hat einem das unorthodoxe Vorgehen auch einfach zunehmend das Hirn gegrillt. Oder wir haben, würde ich ebenfalls nicht völlig ausschließen, eine neue Bewusstseinsebene freigeschaltet, jaja, ding-dong.
"Ninety Three 'Til Infinity And Beyoncé" dürfte selbiger wie auch den Souls Of Mischief gefallen: In seiner glitzernden, flirrenden, funkelnden Üppigkeit steht dieser nur knappe vier Minuten umspannende Soundteppich den übrigen ausufernden Tracks nur in seiner Länge nach.
Passend zu dem dafür Pate stehenden Kaffeekränzchen von Religions- und Friedensstiftern und Serienkillern wechselt die Stimmung von "Ghandi, Dalai Lama, Your Lord & Savior J.C. / Bundy, Jeffrey Dahmer, And John Wayne Gacy" fortwährend unmerklich von Lieblichkeit zu Beklemmung und zurück. Spätestens bei "Ants To You, Gods To Who?" würde ich mich auch nicht mehr wundern, wenn André auch noch eine singende Säge auspacken würde.
Wie der allervirtuoseste Flötist wirkt er zwar nicht. Der Eindruck drängt sich trotzdem auf, dass seine Tracks bei aller zerfaserten Fahrigkeit irgendwie schlau komponiert sein müssen. Es zeigt sich an der intensiven Wirkung, der Beschleunigung von Gedankenspiralen, bis man denkt, man habe ein Kettenkarussell in der Rübe.
Hat André 3000, zumindest momentan, keinen Bock auf Rap? Offenbar, es erschiene verständlich. Hat er über den zahlreichen persönlichen Verlusten, die er in den letzten Jahren verschmerzen musste, den Verstand verloren? Höchstens ein bisschen. Ist er Künstler im wahrsten Sinne, einer, der tut, wozu es ihn innerlich drängt, ohne Rücksicht auf Verluste? Ganz, ganz sicher. Darauf ein Düdelüü!
13 Kommentare mit 7 Antworten
Musik, die den Geist auf Wanderschaft führt. Herrlich.
Mit einer Hip Hop Platte hätte er nur verlieren können.
Ist das so eine Art Frusciante-Projekt - bloß in zugänglich/poppig?
Findest du die unzugänglich?
Hat wahrscheinlich seine Berechtigung für ... irgendwas
Plätschert so vor sich hin, selbst für Fahrstuhl-Musik zu belanglos. Blitzdings in Musikform.
Ich mags ziemlich gerne.