laut.de-Kritik
Fine Dining für den demolierten Death Metal-Gaumen.
Review von Mirco LeierDeath Metal ist für sich schon ein sehr nerdiges Genre. Machen wir uns nichts vor, das einzige, das das Gore-Cosplay auf einem Cannibal Corpse-Album vom Schaffen eines Hansi Kürsch unterscheidet, ist das FSK 18-Label (und ein halber Meter Halsumfang). Der eine nutzt seine Musik, um auf Drachen durch Mittelerde zu reisen, der andere mimt stattdessen den Ork und schlachtet Horden von wehrlosen Jungfrauen nieder. Zwei Seiten derselben juvenilen Dungeon & Dragons-Medaille.
Gerade deshalb ist es auch so verwunderlich, dass gerade dieses Subgenre noch stärker als vergleichbare Metal-Sprösslinge bis in den letzten Winkel von Puristen und Gatekeepern besiedelt ist, die sofort die Ohren abwenden, wenn ein paar Augen zu viel auf ihre Lieblingsband schielen. Oder, gott bewahre: Wenn die auf die Idee kommt, mal auch nur für eine Sekunde den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Das muss ballern, verdammt. Heißt konkret: Alles bleibt genau so wie es ist. Wieso sich aber nicht mal ein wenig mehr der intrinsischen Nerdigkeit dieses Genre hingeben? Und damit meine ich nicht, den fiktiven Bodycount des letzten Albums nochmals zu übertreffen, während man sich zu Blastbeats den Nacken wund schüttelt.
Blood Incantation fanden schon mit ihrem letzten Album einen anderen, deutlich erfrischenden Weg, die genretypischen Scheuklappen abzulegen. Das buchstäbliche Öffnen ihres dritten Augen führte dazu, dass sie ihren Fokus auf Aliens und Verschwörungsmythen richteten und diese Inhalte mit passend vernebelten Psych-Rock und spacigen Drones und Synths untermalten. Das klang weniger nach muffigem Folterkeller und mehr nach Hotbox auf dem Planeten Centurion-B. Diese Entwicklung setzte sich in einem vollständigen Ambient-Album fort, das wohl auch den allerletzten Kuttenträger vor die Birne stieß. Wer sich jetzt noch an Bord dieser interdimensionalen Reise befindet, der weiß, dass diese Band keine Hausmannskost kocht.
Ihr neues Album "Absolute Elsewhere" führt diese bisherigen Entwicklungen zu ihrem mutigsten und komplettesten artistischen Statement zusammen und serviert Fine Dining für den demolierten Death Metal-Gaumen. Ein Blick auf das Cover genügt, um zu sehen, dass ihre Reise sie nur noch weiter in die Tiefen des Universums führte, wo jegliche irdische Regeln und Restriktionen außer Kraft gesetzt sind. Natürlich sind die vier Amerikaner nicht die erste extreme Metal-Band, die Einflüsse aus 'braveren' Genres wie Prog-Rock oder Ambient in ihrer Musik verwebt, aber nur ganz wenige erreichen dabei ein solches Maß an Ambition und Grandiosität wie Blood Incantiation.
Über zwei zwanzig Minuten lange Biester, die die Band in drei leichter verdauliche "Tablets" aufteilt, entfaltet sich eine galaktische Reise ins Unbekannte, die die Eingangs erwähnte Nerdigkeit nicht klein zu halten versucht, sondern als Ehrenabzeichen stolz auf der Brust trägt. Dieses Album wäre als Soundtrack für eine Sci-Fi D&D-Kampagne keineswegs fehl am Platz. Die Verspieltheit, mit der Blood Incantation dieses sonst so engstirnige Genre angehen, verströmt eine Abenteuerlust, die jeden musikalischen Haken wie das nächste Kapitel einer epischen Reise klingen lässt. "Absolute Elsewhere" ist kein Album zum Zähne blecken und Nackenmuskeln trainieren, es ist ein Album zum Staunen und sich-Überwältigen-lassen.
Schon das erste Tablet von "The Stargate" reißt innerhalb acht Minuten ein beachtliches Programm ab. Anfangs meldet sich kurz der Synthesizer an, dann geht es direkt mit Vollgas bis an die Grenzen des Kosmos, wo die Blastbeats plötzlich verstummen und sich eine beruhigende Psychedelität breit macht. Als hätte der Sender im UFO plötzlich von Bolt Thrower zu Pink Floyd gewechselt. Minutenlang gleiten wir durch ein galaktisches Kaleidoskop, während sich eine schwelende Progression abzeichnet. Die Synthies jaulen auf, der schwerelose Rhythmus nimmt konkrete Formen an, bis ein lupenreines Psych-Rock-Riff das schwarze Nichts aufreißt und tausend Sonnen vor dem inneren Auge explodieren lässt. Ein wunderschöner Moment, der erneut in einem kolossalen Breakdown mündet, der sich anfühlt, als hätte Lovecraft himself den Vorhang beiseite gezogen und als würde man direkt in den tiefsten Abgrund kosmischen Horrors starren, der sich vor der eigenen Iris plötzlich ausbreitet.
Die prominenten Einflüsse aus der elektronischen Musik fassen im zweiten Tablet dann so richtig Fuß, wenn Thorsten Quaeschning, der Mann hinter Tangerine Dream vorbeischaut, um uns mithilfe seiner Synthies für ein paar Minuten mit verträumter Weltraummusik zu hypnotisieren. Ehe die vierköpfige Band gegen Ende wieder die Zügel in die Hand nimmt und das nächste instrumentale Crescendo abfeuert, das uns im Hyperspeed vorbei an Sternnebeln, Asteroiden und Schnappschüssen außerirdischer Zivilisationen führt.
Die Band sagt über das Album, dass es eine Art Soundtrack zu einem fiktiven SciFi-Film von Werner Herzog sei, und man muss nicht die begleitenden Videos zu diesem Album sehen, um zu verstehen, wie diese Vision aussehen könnte. Die Instrumente sprechen für sich. Jedes Riff, jeder Breakdown, jede Synth-Kaskade fungiert auch als 35mm-Filmprojektor, der einem Bildschnipsel von grauen und grünen Männchen, Planeten die Feuer spucken, und Pyramiden auf dem Mond auf die Retina projiziert.
Das macht das stetige An- und Abschwellen dieser LP zu einer Reise, die sich nie im Kreis dreht, sondern stetig neue Wege findet, diese eigentlich so gegensätzlichen Bausteine aneinander zu reihen, die sich nicht nur nahtlos anfühlen, sondern sowohl narrativ als auch musikalisch einfach Sinn ergeben. Im dritten Tablet von "The Stargate" etwa mündet ein unnachgiebiger Anschlag auf das Trommelfell, in akustischen Gitarren, die in rituelle Bongos überleiten. Wenn die Blastbeats zurückkehren, fühlt sich ihr Einschlag um so verheerender an. Doch die kosmischen Motive dieser LP machen auch vor Paul Riedls überlebensgroßen Growls keinen Halt. Erst löst ihn ein unnachgiebig jaulendes Riff ab, das sich durch das große Nichts bohrt, wie der Laserstrahl des Todessterns, ehe sich die Dimensionen zu spalten beginnen und ein schwarzes Loch auch die Gitarren verschlingt, bis nur noch ihr gespenstisches Echo ferne Galaxie erreicht.
Auf dem zweiten Song der LP "The Message" findet die Band stellenweise noch großartige Wege, ihre Fantasie zum Leben zu erwecken. Große Teile des öffnenden Tablets kombiniert überlebensgroße, außerirdische Gitarren-Salven à la Rush mit Rieds Vocals, ehe die Halbzeit einen kriechenden Breakdown einleitet, der klingt, als würde man sich gerade im Sturzflug auf einen fremden Planeten befinden. Wiederkehrende Akkorde melden sich wie Fehlermeldungen immer wieder zu Wort, das Chugging wird langsamer und langsamer, ehe sich gen Ende ein so unnachgiebiges Hardcore-Riff aus der Bruchlandung heraus kristallisiert, vor dem selbst Converge schreiend wegrennen würden.
Im zweiten Tablet verfallen die vier dann endgültig dem Pink Floyd-Worship. Erst führen sie uns noch mit einer Minute Gitarren-Gedresche auf die falsche Fährte, ehe sich über fünf Minuten entschleunigter, psychedelischer Prog in seinen buntesten Farben entfaltet. Selbst die Vocals erinnern stellenweise an Roger Waters. Es ist ein erneuter wunderschöner Left-Turn, der einem ausreichend Möglichkeit bietet, sich einfach nur treiben zu lassen, während Bilder von endloser Schönheit an einem vorbeiziehen, ehe das letzte Tablet der LP noch einmal aus allen Rohren feuert.
Die ersten Sekunden deuten den aggressivsten Death-Metal-Anschlag der gesamten LP an, Riedl läuft hier wirklich zu absolut dämonischer Bestform auf und schreit sich sämtlichen Teer von der Seele. Doch allein binnen der ersten zwei Minuten wechselt die Band gefühlt alle dreißig Sekunden den Gang. Was sich als altbackener Brecher andeutet, bekommt durch Gitarren-Soli und Drumbreaks Geschmäcker von Dream Theater und Opeth, die bald in völlig neue Gefilde kippen, wenn Blood Incantation plötzlich die Flöte auspacken und mitten in fernen Galaxien über Elfen und Zwerge stolpern, die im Zauberwald Stepptanz tanzen.
Die Rückkehr zu ihren brutalen Wurzeln breiten sie im Finale der LP über nahezu acht Minuten aus, inklusive einem kurzen Interlude, das klingt, als würden sie versuchen die Bremsen reinzuhauen, ehe sie angesichts der Macht des Riffs, das sich da anbahnt, den Geist aufgeben. Nichts kann sie mehr halten, und so rast die Band mit dröhnenden Gitarren und klagenden Schreien im Ohr geradewegs in die Unendlichkeit des Alls, wo die nächsten Abenteuer sicherlich schon auf sie warten.
"Absolute Elsewhere" skizziert einen Weg nach vorne für den Death Metal, der geradewegs jenseits der eigenen Stratosphäre führt. Sicherlich ist das, was Blood Incantation hier machen, auch ein Stück weit Metal, für Leute die sonst keinen Metal hören, denn dass sich diese Space-Metal-Oper leichter an den Mann bringen lässt, als das fünfte gleichklingende Dying Fetus-Album, ist auch klar. Aber das muss ja nicht unbedingt negativ konnotiert sein. Denn egal ob als Einstiegsdroge, oder als nächste Entwicklungsstufe: Viel besser wird dieses Genre nicht mehr.
1 Kommentar mit 2 Antworten
Wieso muss gefühlt jede Metal-Rezension dieser Tage mit Szene-Gewimmer anfangen? Nicht nur hier. Wie auch immer, top Release.
Wirkt wie eine Entschuldigung für den kommenden Text. Selbtbewusst geht anders
Dieser Kommentar wurde vor 11 Minuten durch den Autor entfernt.