laut.de-Kritik

Kaum zu glauben: Er kann singen!

Review von

Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich erst mal die Ohren zu reiben. Der Mann, der sich seit seinem Debüt 1962 stimmlich durch über 50 Alben geraspelt hat, rechnet man Live-Aufnahmen und offizielle Bootlegs mit dazu, kann tatsächlich singen! Gut, wie Placido Domingo klingt Dylan nach wie vor nicht, eher wie ein begabter Kuckuck, aber kein Vergleich zum Gekrächze, das er 2012 auf "Tempest" verewigte.

Noch ein Zeichen seiner Hochachtung für Frank Sinatra, dem er mit "Shadows Of The Night" die Ehre erweist. Denn die zehn Stücke, die Dylan hier ja tatsächlich singt, stammen aus dem Repertoire des Entertainers und Schauspielers aus Hoboken, New Jersey, der nicht zufällig den Spitznamen "The Voice" trug.

Die Lieder, die man heutzutage am ehesten mit Sinatra verbindet, etwa "Strangers In The Night", "My Way" oder "New York, New York", sind hier nicht vertreten. Sie stammen aus seiner späten Crooner-Phase ab den 1960er Jahren. Die meisten der Stücke, die Dylan covert, nahm Sinatra in seiner wilden Phase in den 1950er-Jahren auf, als der Herzschmerz, den er in die Stücke legte, noch authentisch klang. Allein vier Stücke stammen aus "Where Are You" (1957).

Orchester und aufwändige Arrangements unterstrichen und ergänzten Sinatras Stimme perfekt. Dylan gelingt hier der zweite geniale Schachzug: Bis auf drei Stücke mit zusätzlichen Bläsern ("I'm A Fool To Want You", "The Night We Called It A Day", "That Lucky Old Sun") lässt er sich lediglich von fünf Mitgliedern seiner Live-Band begleiten. Donny Herron an der Pedal Steel-Gitarre gelingt das Kunststück, den Hall des Orchester nachzuahmen und dem Album seinen warmen, einlullenden Klang zu verpassen.

Gleichzeitig ist "Shadows" auch eine Hommage an das Great American Songbook, wie die umfangreiche Sammlung an Stücken bezeichnet wird, die professionelle Songwriter wie Irving Berlin, Richard Rodgers, Oscar Hammerstein oder George Gershwin am Fließband produzierten und die von Sinatra, Ella Fitzgerald, Nat King Cole und vielen anderen in die Charts gehievt wurden. Es war die Ära der Tin Pan Alley, wie die 28. Straße in Manhattan Ecke Broadway genannt wurde, in denen die meisten Musikverlage ihren Sitz hatten. Ironischerweise trug Dylan seinen Teil zu deren Untergang bei, als er begann, eigene Lieder zu schreiben, die von anderen Künstlern gecovert wurden.

Ist Dylan mit 74 altersmild und harmoniebedürftig geworden? Vielleicht. Schrullig bleibt er nach wie vor. Das einzige Interview, das er zu diesem Album gab, veröffentlichte die Postille der mächtigen US-Lobbyorganisation AARP ("American Association of Retired Persons"), die sich für die Belange von Rentnern einsetzt.

Im lesenswerten Artikel (im Internet auf der AARP-Seite abrufbar) erklärt Dylan seine Motivation, dieses Album aufzunehmen. "Ich liebe diese Lieder und ich wollte sie respektieren. Sie zu verhunzen wäre ein Sakrileg gewesen. Wir alle haben furchtbare Versionen dieser Stücke gehört und haben uns schon fast an sie gewöhnt. Ich wollte sie wieder ins richtige Licht rücken".

Gegen einen Vergleich mit Sinatra wehrt er sich aber. "Allein im selben Atemzug mit ihm genannt zu werden, ist eine hohe Form der Anerkennung. Das Wasser reichen kann ich ihm natürlich nicht. Das kann niemand."

Da heißt es also: Flasche Wein öffnen, Platte auflegen, Füße hochlegen, genießen und in Erinnerungen schwelgen. Wie auch immer man es einordnen mag: Es ist ein wunderbares Album.

Trackliste

  1. 1. I'm A Fool To Want You
  2. 2. The Night We Called It A Day
  3. 3. Stay With Me
  4. 4. Autumn Leaves
  5. 5. Why Try To Change Me Now
  6. 6. Some Enchanted Evening
  7. 7. Full Moon And Empty Arms
  8. 8. Where Are You?
  9. 9. What'll I Do
  10. 10. That Lucky Old Sun

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