laut.de-Kritik
Mutige Flucht aus dem musikalischen Wohlstand.
Review von David HutzelDem Vernehmen nach fiel Justin Vernon nach seiner letzten Platte im Jahr 2011 und diversen Nebenprojekten in ein ziemliches Loch. Vom Druck, den der Erfolg seines Projekts Bon Iver mit sich brachte – zwei Grammys heimste er dafür 2012 ein – fühlte sich Vernon zusehends eingeschränkt. Zwischendurch erwischte man ihn sogar beim verbalisierten Gedanken, dass es das mit Bon Iver gewesen sein könnte.
Nun gibt es mit "22, A Million" nicht nur ein drittes Studioalbum, sondern eines, das seine Kraft genau aus dieser Krise schöpft. Nummern und Sonderzeichen stehen darauf als zeitgeistige Metaphern, von denen einige entschlüsselt sind, andere nach wie vor kryptisch bleiben: Die 22 zumindest steht für Vernon selbst (seine Lieblingszahl), die "Million" für seine gesamte Umwelt. Schenkt man den Begleittexten zum Album Glauben, so handelt die Platte vor allem vom Prozess der Selbstfindung und –öffnung. Von der 22 hin zur Million.
In musikalischer Hinsicht lässt sich eine der schönsten Weisheiten des Pop-Zirkus' zitieren: Der Künstler hat sich hier neu erfunden. Vernon schrieb schon immer auf den Punkt reduzierte Pop-Hymnen mit ordentlicher Pathos-Beigabe. Das beschert in vielen Lebenslagen ein veritables Maß an Freude (wer hat noch nie zu "Skinny Love" geknutscht?), befand sich gleichzeitig aber immer am Rande zu unglaublich gesättigtem Kitsch. Auf "22, A Million" tritt Vernon die Flucht aus seinem selbst gezimmerten musikalischen Wohlstand an.
Natürlich finden sich auch auf dieser Platte die dicksten Melodien, nur eben in niedrigerer Dichte, zerhackt, mal hier, mal da wieder auftauchend. Analog zu seinem Leben ordnet er seine Musik neu und bedient sich massig an Vocoder- und Hall-Effekten. Bon Ivers neue Künstlichkeit spiegelt sich vor allem im Sample als zentralen Baustein der Platte. Munter montiert Vernon seine Songs zusammen, kopiert und loopt, was das Zeug hält. Das fällt natürlich bereits in den ersten Takten des Openers "22 (Over Soon)" auf und dürfte all jene vergraulen, die den alten Bon Iver – Beanie, Bart und Gitarre – verehrten.
Natürlich ist da noch Vernons liebliches Falsett, das er oft in Imogen Heap-Manier pitcht ("715 – Creeks") oder mit so vielen Spuren überlagert, dass es sich anhört, als singe ein ganzer Chor. "33 "God", wegen der wiederkehrenden, refrainartigen Teile bewusst zur Single erkoren, erinnert zudem an den Sound von Son Lux. Vernon muss man deshalb nicht als Opportunisten abstempeln, "22, A Million" mag streckenweise ebenso nach James Blake und Konsorten klingen, doch die Art, wie Vernon hier seine Musik versteht, ist eine andere.
Der Amerikaner spielt permanent mit den Erwartungen des Hörers. Auf erwähntes "33 "God"" folgt "29 #strafford Apts", das im höchsten Kontrast die Bon Iver-Essenz der Vergangenheit auf die Platte schleust. Wenn Vernon in "8 (Circle)" dann schließlich 80er-Pop und Holzbläser auffährt, dann weckt das ebenso Erinnerungen an vergangene Tage. Solche Songs neben gänzlich neuem Material quasi als Selbst-Zitate auf der Platte zu wissen, irritiert in musikalischer Hinsicht, erscheint im Kontext der Erzählung aber durchaus sinnvoll.
Vernon dokumentiert auf "22, A Million" seinen Weg aus der Krise hin zu Neuem. Weil seine größte Kompetenz nach wie vor darin liegt, Intimität auf Tonträgern zu konservieren, nimmt man ihm das genau so ab. Dafür hätte es nicht einmal die durchgestylte, kryptische Zeitgeist-Ästhetik gebraucht.
9 Kommentare mit 12 Antworten
Auf der einen Seiten ist das ganze Ding in seinem Daherkommen natürlich unglaublich prätentiös. Nichtsdestotrotz gibt es hier aber viele gute Momente und ganze Passagen, denen das innewohnt, was die ersten beiden Alben so gut gemacht hat. Gratwanderung gelungen, würde ich mal behaupten.
Tendiere zu selbigem. Gelungenes Album aber kein Wunderwerk. Mir persönlich ist das aber zu pompös, ich bleibe da lieber bei for Emma...
"Vernon schrieb schon immer auf den Punkt reduzierte Pop-Hymnen mit ordentlicher Pathos-Beigabe." - Pathos, ja. Aber auf den Punkt reduzierte Pop-Hymnen? Bislang hab ich Bon Iver, vor allem die letzte Platte, immer eher unvorhersehbar und sperrig erlebt und erst nach mehrmaligem Durchhören sind die eingängigen Melodien hängengeblieben.
22, A Million erst einmal reingehört - typische Bon Iver-Melodien in neuem Sound.
Da wartet man 5 Jahre auf eine neue Platte und da hat er nichts besseres zu tun als die Lieder mit widerlichem Autotune zu entstellen? Na bravo...
Richtig anstrengend beim Zuhören, kann damit leider nicht gerade viel anfangen, wobei man immer mal wieder wunderschöne Melodien raushören kann, die dann leider immer wieder gestört werden.
Da kann ich nur zustimmen. Auto-Tune gehört ganz einfach der Hexen-Prozess gemacht
Danke, Merkel!
I see what you did there... and I like it
00000 Million find ich allerdings großartig.
Klar ist die Platte etwas überproduziert, vor allem das erste Drittel ist stressig, aber 4/5 Sterne würde ich Ihr dann doch geben.
Ich denke man kann objektiv gut ne 4/5 geben. Ich könnte sie guten Gewissens zücken, ich könnte mir es danach aber genau so gut nie wieder anhören.
Mir sind die Vorgänger nicht gerade zugeflogen. Scheint bei diesem Album genauso zu sein.