laut.de-Kritik

Der Industrial-Tritt ins Gemächt der Popkultur.

Review von

Sheffield 1973. Es ist nicht immer leicht, Pionier einer gänzlich neuen Idee zu sein. Schon gar nicht, wenn man sich Anfang der 70er Jahre in einer englischen Grafschaft vor einem erwartungsfrohen Rockpublikum befindet und anstelle der erwarteten Led Zep-oder Deep Purple-Musik einen verstörenden, experimentellen, atonalen und nahezu rein elektronischen Abrissbirnensound zelebriert. Der dargebotene Proto-Industrial kam bei der zahlenden Kundschaft auch gar nicht so gut an. Gewalttätige Besucher attackierten die Band heftig. Sänger Stephen Mallinder zog sich sogar den Bruch eines Wirbelknochens zu.

Trotz solchen Unbills verzagt die Band nicht. Cabaret Voltaire sind neben Psychic TV, Throbbing Gristle und wenigen anderen die Speerspitze des Urindustrial. Benannt nach dem Geburtsort des Dadaismus, einem Club in Zürich, schicken sich Mallinder, Richard H. Kirk und Chris Watson an, musikalische Regeln nicht nur umzuwerfen, sondern komplett dem Erdboden gleich zu machen. Mit "Red Mecca" liefern sie 1981 ihren künstlerischen Höhepunkt ab.

Die Platte ist in den Tagen des Erscheinens alles andere als ein Abräumer. Das ist ihrem zukünftigen Einfluss auf die elektronische Musik zum Glück nicht abträglich. Ähnlich wie seinerzeit das Debüt der Velvet Underground schlägt die fordernde LP ihre Schneise in den Musikdschungel und höhlt die 80er und 90er mit einem ätzenden musikalischen Säuretropfen aus, dessen verquaste Rhythmen letzten Endes süchtig machen. Wenn Kraftwerk-Platten so etwas wie das freundliche Gesicht elektronischer Klänge sind, dann ist "Red Mecca" ein finsterer Hinterhof auf der ganz und gar dunklen Seite dieses Mondes.

Schon der beunruhigende Albumtitel kommt nicht von ungefähr. Cabaret Voltaire entlarven hier religiösen Fundamentalismus und aggressive Missionsgedanken als gewalttätige Monstrosität der Intoleranz. Der Clou: Erstmals knöpft eine Band sich auf dieser Ebene die christliche und islamische Variante gleichermaßen vor. Fiese amerikanische Fernsehprediger von der Klingelbeutel-goes-Pastorenporsche-Front bekommen ihr siedendes Fett ebenso ab wie der damals aufkeimende Afghanistankonflikt, das Khomeini-Regime oder die Geiselnahmen amerikanischer Bürger durch iranische Gotteskrieger. Am Ende steht West wie Ost im Hemd des spirituellen und humanistischen Losers da. Ein Schelm, der sich im Hier und Jetzt umschaut und die Platte eins zu eins ebenso als heutigen künstlerischen Kommentar zur unveränderten menschlichen Tragödie verstehen mag. "Red Mecca" ist eine zeitlose LP.

Die (un)menschliche Brutalisierung schleudern sie konsequente neun Tracks lang zurück in die Schnauze. "Spread The Virus" ist in seiner ganzen Verachtung durchaus wörtlich zu verstehen. Zwischen Fleischwolf samt Störgeräuschen und einem komplett eingängigen Rhythmus kotzt Mallinder sich grimmig aus. "Red Mask" schimmert fremdartig im böswilligen Rock-Rhythmus zu schneidend repetitiven Sequenzer-Tonfolgen. Das Lied ist die totale Konfrontation allen Rockismus mit der eigenen Terminierung. End of Orgy! Nebenbei verkörpert es auch die Geburtsstunde der Electronic Body Music. Alles Erfundene, das man später gern Front 242 und Co. als musikalische Paten zuschiebt, findet in Wahrheit hier seine Wiege. Sogar an Mallinders Vocals und seinem Gesangsstil orientierten sich die Belgier und viele andere.

Das kurze, aber höchst prägnante Thema von "Landslide" ist ein Evergreen des Postpunk. Schroff und verspielt zugleich setzt es sich am Hörer fest wie ein Blutegel. "Split Second" implantiert der Klangorgie eine psychedelische Noisekante, deren hypnotische Anziehungskraft heute genau so funktioniert wie vor über drei Dekaden. Doch was heute noch immer irritierend modern tönt, war damals seiner Zeit weit voraus. Gleiches gilt für das erfrischend kaputte "Black Mask" samt fettem Killerbass.

Herzschrittmacher des Albums ist das zehnminütige "A Thousand Ways". Monotonie meets Misanthropie. Als ungesund scheppernde Kriegsmaschine versucht das Lied alles, um des Publikums Feind und Eroberer gleichermaßen zu sein. Ein Tanz auf dem Drahtseil, der am Ende gelingt. Hat man alle Songs durch, hängt man in den Seilen und pfeift mit den eigenen Hörgewohnheiten aus dem letzten Loch. Doch der Boden ist fruchtbar. Was aus den Trümmern des blutroten Mekka entsteht, wird man später Techno, House und EBM nennen. Chris Watson verlässt die Band nach dieser Platte. Kirk und Mallinder wenden sich daraufhin eingängigeren Strukturen zu. Doch "Red Mecca" bleibt ihr ewiger Tritt ins Gemächt der Popkultur.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. A Touch of Evil
  2. 2. Sly Doubt
  3. 3. Landslide
  4. 4. A Thousand Ways
  5. 5. Red Mask
  6. 6. Split Second Feeling
  7. 7. Black Mask
  8. 8. Spread the Virus
  9. 9. A Touch of Evil (Reprise)

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